Dr. Vijai S Shankar MD.PhD.

India Herald

Houston, USA

12. September 2008

 


“Das Leben hat eine so außergewöhnliche Struktur, wenn sein Spiel verstanden wird.” Peter Julian Capper

 

Der Mensch beschwert sich entweder offen, auf sarkastische oder auf subtile Weise. Das ist tief in seine Psyche eingeschrieben und wird für notwendig gehalten, damit alles seine Ordnung hat, um einen geschmeidigen Ablauf des Familienlebens, der Gesellschaft und der nationalen Maschinerie zu gewährleisten. Es ist merkwürdig, dass Beschwerden Ordnung, Harmonie und Frieden sicherstellen. Es scheint unmöglich, dass Ordnung, Harmonie und Frieden von sich aus bestehen können; sie scheinen die Hilfe von Beschwerden zu brauchen – welche Ironie!

 

Das Verhalten von Kindern wird geformt und erhalten durch geflügelte Worte, Regeln, Kultur und Religion. Das lässt dem Erblühen von Beschwerden einen weiten Raum, wenn das erwartete Verhalten nicht eintritt. Beschwerden scheinen das Verhalten an die Leine zu nehmen und zu verbessern. Der Mensch glaubt, dass das Verhalten von Kindern nicht den Erwartungen entspricht, wenn man sich nicht beschwert. Aber warum waren Beschwerden bisher nicht erfolgreich? Kinder werden zu Erwachsenen, die es irgendwie nicht mögen, wenn mit dem Finger auf sie gezeigt wird, und dennoch nicht aufgehört haben, Beschwerden zu äußern. Wenn die Beschwerden Wirkung gezeigt hätten, was der Fall wäre, wenn sie real wären, sollten Erwachsene frei von ihnen sein. Wenn sie nicht real sind, muss man sich ernsthaft Gedanken machen, was es bringen soll, sich zu beschweren.

 

Tägliche Beschwerden zwischen Geschwistern gehen den Eltern unter die Haut. Die ewig-scharfe Schwiegermutterzunge ist allseits bekannt. Das sprichwörtliche Genörgel der Ehefrau liefert Stoff für gute Witze, allerdings nicht aus der Sicht des Ehemanns. Die Beschwerden einer überlasteten, krisengeplagten, missbrauchten Ehefrau, die unter der Armutsgrenze lebt, sind eine tragische Geschichte. Die alltägliche Leier von Beschwerden, die den nachhause kommenden Brotverdiener begrüßen, der mit Sicherheit selbst einiges zu meckern hat, sind legendär. Selbst in einem gut laufenden Haushalt bleiben Beschwerden nicht aus.

 

Beschwerden erreichen den Lehrer, den Schulleiter, den Dekan, den Kanzler, die Wirtschaftsbürokraten und die Regierung; kein Mensch und keine Institution sind frei davon. Bis zur Perfektion geschliffene Rechtssysteme urteilen über Beschwerden. Auf internationaler Ebene verursachen Grenzüberschreitungen aller Art Beschwerden zwischen Nationen. Niemand ist perfekt und der Grund ist offensichtlich: Kein Mensch ist frei von Beschwerden. Der Mensch versucht, perfekt zu sein, dennoch scheint niemand perfekt zu sein, denn alle beschwerden sich.

 

Beziehungen laufen gut, bis sich Beschwerden bemerkbar machen. Was für eine Ironie, dass es mehr Beschwerden in Beziehungen gibt, die schon einen Langzeittest bestanden haben! Der Grundstein einer langen Beziehung sollte doch Verständnis sein und nicht Beschwerden. Beschwerden gibt es am Anfang, in der Mitte und, sozusagen als Schlussstrich, auch am Ende einer Beziehung. Das bedeutet, dass auch Liebe nicht frei von Beschwerden ist. Freunde beschweren sich ebenfalls und wer sich ständig beschwert, taugt zur Freundschaft nicht.

 

Respekt, Hingabe und Liebe werden alle durch eine Beschwerde aufgelöst – eine Beschwerde, die der Mensch für real hält, obwohl er nicht der Handelnde, der Denkende und der Sprechende ist. Man fragt sich, wie wahrhaftig der Respekt, die Hingabe oder die Liebe eigentlich gewesen sein müssen. Selbst religiöse und spirituelle Menschen unterliegen der Versuchung von Beschwerden – kein Mensch ist immun dagegen. Nur ein erleuchtetes Wesen ist „befreit von” Beschwerden, wenngleich er auch nicht „frei von” ihnen ist, und es auch niemals sein wird, solange ihn Mensch und Verstand umgeben.

 

Stätten der Andacht, die Wohnsitze Gottes, sind ebenfalls nicht frei von Beschwerden. Würde man das Verhalten derer, die die Regeln guten Verhaltens aufstellen und die Stützen Gottes darstellen, einer Untersuchung unterziehen, dann wäre die Hölle los mit Beschwerden in Hülle und Fülle. Die Manier und Manieriertheit religiöser Zeremonien kommen unter den Beschwerdehammer.

 

Zu jeder Speise zuhause oder im Restaurant wird der Austausch von Beschwerden aufgetischt. Die Bedienung, der Geschmack und die Anordnung der Speisen und Getränke führt zu alltäglichen Beschwerde-Geschichten. Jeder Aspekt des Öffentlichen Dienstes ist von Beschwerden durchdrungen. Sie werden gebraucht - keine Frage - aber haben sie die erwünschten Ergebnisse geliefert?

 

Wo lernte der Mensch, sich zu beschweren? Wer hat es ihn gelehrt? Wer war der erste Mensch, der sich beschwerte? Wie breitete sich das Phänomen der Beschwerde wie ein Krebsgeschwür in jeden Mann und jede Frau hinein aus? Der Mensch ist stolz auf seine Höherentwicklung und beschwert sich dennoch. Sind Beschwerden ein Zeichen von Bildung oder Höherentwicklung? Die Logik scheint Beschwerden zu rechtfertigen, aber man muss sich noch viel ernsthafter Gedanken machen, um zu verstehen, warum sie überhaupt existieren. Gott hat sie in Seiner Schöpfung manifestiert und daher sind sie notwendig. Vielleicht ist es lediglich notwendig zu verstehen, dass sie unnötig sind. Wenn die Welt eine Illusion ist, wie die Weisen verkünden, müssen auch Beschwerden eine Illusion sein. Sie sind notwendig, damit das Drama des Lebens ablaufen kann; das macht sie illusorisch und nicht real.

 

Es kann überhaupt nicht genau festgestellt werden, wo der Mensch lernte, sich zu beschweren, wer es ihm beigebracht hat oder wer der erste sich beschwerende Mensch war. Beschwerden sind offensichtlich eine Funktion eines höher entwickelten Verstandes, aber der Ursprungszeitpunkt von Beschwerden kann überhaupt nicht genau bestimmt werden. Es ist lediglich offensichtlich, dass sie irgendwann ihren Anfang genommen haben. Sie nahmen ihren Anfang und das war Teil des Verfeinerungsprozesses des Lebens, um seine illusorische Natur realer zu machen.

 

Es ist ebenso schwierig zu bestimmen, wer dem Menschen das Beschweren beigebracht hat, denn der Lehrer würde selbst einen Lehrer gebraucht haben. Der erste Mensch, der sich beschwerte, konnte dafür also niemals unterwiesen worden sein: Beschwerden geschahen dem Menschen einfach, wie alles andere auch. Sie geschahen und werden auch weiterhin geschehen. Anfänglich glaubte der Mensch, dass der andere fähig wäre zu tun, was ihm gesagt wird. Er wurde nicht müde, Anweisungen zu geben, jedoch ohne jede Erwartung. Wer die Anweisungen aussprach, vollendete die Arbeit selbst nach seinen Wünschen. Der Mensch erwartete niemals, dass der andere seinen Anweisungen Folge leisten „sollte”.

 

Als sich später dann der Verstand weiter entwickelte, erwartete der Mensch vom anderen, dass derjenige seinen Anweisungen folgen und tun sollte, was getan werden „sollte”. Wurden seine Anweisungen nicht exakt befolgt, beschwerte sich ein Mensch zum ersten Mal. Die Beschwerde war Ausdruck seiner Unzufriedenheit. Unzufriedenheit grub sich in seine Psyche ein. Sie vermehrte sich zu solchen Ausmaßen, dass der Mensch sich ohne jeden Grund beschwert - jedoch alles als Teil des Dramas.

 

Was ist eine Beschwerde? Unzufriedenheit aller Art ist eine Beschwerde. Die leichteste Unzufriedenheit ist eine Beschwerde. Wenn Unzufriedenheit seinen Höhepunkt erreicht, wird es Beschwerde genannt. Gibt es irgendeinen Menschen, der sich wohl fühlt und zufrieden und der in Harmonie und in Frieden ist? Wenn man genau hinschaut gibt es keinen, weder unter den Spirituellen noch unter den Religiösen. Das bedeutet lediglich, dass der Mensch verstimmt und unzufrieden ist und sich ständig beschwert bis er schließlich aus dem Leben scheidet.

 

Aber was ist es, worüber sich der Mensch beschwert? Wenn eine Handlung nicht seinen Vorstellungen entspricht, wenn eine Handlung, die „erledigt werden sollte”, unpünktlich oder überhaupt nicht erfolgt, kurz, wenn das Leben nicht verläuft, wie es verlaufen „sollte”, beschwert sich der Mensch. Nun sind diese verschiedenen Aspekte nur Konzepte im menschlichen Verstand, die er für den einzigen Weg hält, wie eine Handlung ausgeführt werden sollte, denn er hält seine Konzepte für real. Die Konzepte eines Menschen, wie das Leben „sein sollte”, hält, außer ihm selbst, sonst keiner für real.

 

Ist nun die Erfüllung von Erwartungen möglich? Könnte es ein Leben geben, was seinen Erwartungen entspricht? Wenn sein erwartetes Leben real wäre, dann könnte es offensichtlich für jeden Menschen nur dieses eine Leben geben. Würde dies das Leben für jedermann gangbar machen? Würde sich nicht jeder beschweren, einschließlich demjenigen, dessen erwartetes Leben allen gemeinsam geschieht? Das Leben wäre unmöglich zu verstehen. Gott, oder „das Leben”, ist einfach zu intelligent, um das vom Menschen erwartete Leben geschehen zu lassen.

 

Selbst relativ gesprochen kann das vom Menschen erwartete Leben keine Realität sein, denn jeder Mensch würde ein Leben ohne Missgeschicke erwarten. Wenn das Leben eines jeden Menschen so wäre, wäre er dann fähig, das Leben wahrzunehmen? Er wäre dazu nicht fähig, denn ein solches Leben wäre nicht dual. Der Mensch braucht die Dualität, damit der Verstand funktionieren kann. Wenn es keine Dualität gäbe, würde der Verstand selbst nicht existieren. Würde der Verstand nicht existieren, dann könnte der Mensch ihn niemals transzendieren und so die Göttlichkeit erlangen. Er wäre nur wie ein Tier, ein des Denkens unfähiges Tier. Da der Mensch ein Tier mit der Fähigkeit zu denken ist und dieser Denkprozess auf Dualität basiert, projiziert der Verstand eine illusorische Welt, die, wenn sie verstanden wird, Göttlichkeit oder Erleuchtung offenbart.

 

Das Leben ist ein einziger Fluss von Energie, der sich von einer Form zur anderen transformiert, spontan, unkontrollierbar und unvorhersagbar. Dieser Transformationsprozess geschieht im zeitlosen und gedankenfreien Jetzt, und was im Jetzt, d.h. im Leben, geschieht, ist ein Spiel aus Licht und Ton. Das Licht und der Ton, „Bindu” und „Nada”, projizieren eine optische Illusion und eine auditive Illusion, nämlich den Verstand und sein Drama aus illusorischen Worten und Bedeutungen. Du kannst das Leben nicht dem Verstand anpassen. Du kannst das Leben nicht entsprechend deiner Konzepte, wie es geschehen „sollte”, geschehen machen und dich beschweren, wenn es nicht so läuft. Es ist das Leben, das den Menschen dazu bringt, zu denken, dass das Leben so laufen „sollte”, wie er erwartet, damit ein Verstehen geschehen kann, dass dies einfach nicht möglich ist.

 

Was im Leben geschehen ist, weißt du immer erst, nachdem es geschehen ist. Das ist eine perfekte Basis, auf der Gedanken, was „geschehen sollte” und „nicht geschehen sollte”, erscheinen, und der Mensch erwartet und wartet auf das, was „geschehen sollte” und beschwert sich, wenn das geschieht, was „nicht geschehen sollte”. Verstehe, dass das, was „nicht geschehen soll”, niemals geschehen kann - nur was “geschehen kann”, geschieht, was nur eine Transformation des Lebens ist. Es geschieht immer, was „bestimmt” ist zu geschehen, und was „geschehen sollte”; was eine Erwartung ist, geschieht ebenfalls, in deinem Verstand als Gedanken. Keines von beiden ist im Leben präsent und kann es auch nicht sein, denn das Leben ist zeitlos und gedankenfrei. Dementsprechend geschieht, was „nicht geschehen sollte” immer als Gedanken in deinem Verstand und nicht als physische Handlung, die „nicht geschehen sollte”, denn eine Handlung ist eine optische Illusion aus Licht und Gedanken sind eine auditive Illusion von Tönen.

 

Es ist dumm, bestimmen zu wollen und zu fordern, was „geschehen sollte” und was „nicht geschehen sollte”, und sich später zu beschweren, wenn es anders gekommen ist. Was im Leben geschehen ist, weißt du immer erst, nachdem es geschehen ist, denn es geschieht als Gedanken im Verstand und nicht als Realität im Leben. Daher ist der Wachzustand eine Illusion – „Maya”. Selbst die Gedanken, die im Verstand geschehen, sind niemals identisch mit dem, was du erwartest, wenn es geschieht, wie erwartet. Das Leben geschieht und ebenso geschieht der Verstand. Der Verstand gibt dir jederzeit die Möglichkeit zu verstehen, dass die Verstandeswelt eine Illusion ist. Das einzige, was geschieht, ist ein Alterungsprozess und der geschieht im zeitlosen und gedankenfreien Jetzt. Zum Zeitpunkt deiner Geburt weißt du niemals, dass du geboren wirst; ebenso wirst du auch nicht wissen, dass du tot bist, wenn du stirbst.

 

An wen würde oder könnte sich der Mensch wenden, wenn er nicht geboren worden wäre? Wäre er überhaupt fähig, sich zu beschweren, dass er nicht geboren ist und geboren werden möchte? An wen würde oder könnte er sich wenden, um sich über seinen Tod zu beschweren? Wäre er überhaupt fähig, sich zu beschweren, dass er gestorben ist und nicht sterben will? Weder über Geburt noch über Tod kann sich der Mensch bei Gott oder beim Leben beschweren; es ist nur das Dazwischen, worüber er sich beschwert. Dieses Dazwischen ist sein Verstand und nicht das Leben, in dem er oder sie lebendig ist. Der Mensch beschwert sich über seine Gedanken und denkt, er beschwere sich über das Leben. Daher ist der Wachzustand eine Illusion.

 

Welch ein Glück, dass du in dieser großartigen Welt Gottes bist! Du hast nichts für Gott getan, dass er dich mit dem Leben in dieser Welt belohnen sollte und alles für dich tut, was er ohnehin tut, ganz gleich wie illusorisch es auch sein mag. Du belohnst Gott für seine freundliche Geste, dich in seiner Welt existieren zu lassen, indem du dich beschwerst. Das geschieht ebenfalls, damit du verstehst, wie undankbar der Verstand ist, egal wie illusorisch er auch sein mag.

 

Die Beschwerde ist dumm, denn du bist lebendig und wirst am Leben gehalten ohne dein Zutun. Jeder Moment ist ein Geschenk des Lebens, das dir deine Lebendigkeit schenkt. Alles, was du weißt, ist zu dir gekommen, alles, was du besitzt, ist zu dir gekommen und jeder, mit dem du lebst, ist zu dir gekommen. Denken, Sprechen und Handeln geschieht dir und du beschwerst dich über andere. Beschwerden geschehen ebenfalls, damit sie den Menschen daran erinnern, dass er nicht auf das Leben vertraut. Das Leben geschieht den anderen genauso wie es dir einfach geschieht. Lausche der illusionären Welt des Verstandes, die der Mensch für real hält. Lebe die wundervolle Welt, die das Leben als Licht und Ton manifestiert: „Bindu” und „Nada”. Dieses Verstehen ist Erleuchtung.

 

 

© Copyright V.S. Shankar 2008

 

 

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