Dr. Vijai S Shankar MD.PhD.
Published on www.academy-advaita.com
Niederlande
24 April 2020

Hoffnung (4)

„Erwarten“


Verstehe, dass du, wenn du einen Gedanken hast, gedankenfrei zu sein, nicht gedankenfrei sein kannst. Wie könntest du? Du bist überzeugt, dass du etwas tun könntest, gedankenfrei zu werden. 

Verstehe, dass, etwas zu tun, ein Gedanke in deinem Verstand ist, der dich davon abhält, gedankenfrei zu sein, was Erleuchtung ist. Du hoffst, erleuchtet zu sein. Die Hoffnung ist ebenfalls ein Gedanke im Verstand. 

Verstehe, dass der Gedanke, erleuchtet zu werden, Erleuchtung verhindert. Du glaubst ferner an den Weg, dem du folgst, um erleuchtet zu werden. Verstehe, dass dies ein Gedanke in deinem Verstand ist. 

Du bist davon überzeugt, dass man Erleuchtung weitergeben könne. Wie kannst du gedankenfrei werden, wenn du Erleuchtung vorwegnimmst? Das Leben gibt dir eine große Bandbreite attraktiver Realität, doch keine davon ist real.  

Das Leben gibt dir in jedem Moment deines Lebens Gelegenheiten zu verstehen, dass dein Verstand mit Gedanken die Illusion manifestiert, und das Leben zu werden. Die Gelegenheiten bestehen in deinem Haus. In deinem Büro. Mit den Nachbarn. Jeden Tag deines Lebens.  

Doch du hast noch nicht beobachtet und verstanden, was in deinem Verstand geschieht. Du möchtest schlichtweg eine Abkürzung nehmen auf dem Weg, dem du folgst, und hoffst darauf, Erleuchtung zu bekommen. 

Das wird nicht funktionieren, weil dein Verstand voller Gedanken ist und dort bleibt. Du möchtest erleuchtet werden und hoffst auch darauf. Gleichzeitig behältst du all deine geschätzten Gedanken. Du möchtest sie nicht verlieren.  

Du findest Gefallen an Gedanken, weil du nur durch sie auf anderen herumhacken kannst. Nur durch sie kannst du den anderen dominieren. Nur durch sie kannst du vorwegnehmen, erwarten, fordern, auf etwas bestehen und hoffen.  

Der Mensch möchte das Leben nicht leben, wie es ist. Der Mensch möchte das Leben ändern. Der Mensch möchte das Leben unter Kontrolle haben. Der Mensch hofft, das Leben zu leben. Wie lange willst du dies tun? Und der Preis, den du dafür bezahlst, ist Erleuchtung. 

Die Weisen verstehen, dass jeder Moment im Leben, einschließlich seines Inhaltes, geschieht und man nicht auf seine Inhalte hoffen kann. 

Die Erleuchteten hoffen niemals. Sie leben jeden Moment, wie er ist. 

Autor: Dr. Vijai S. Shankar
© Copyright V.S. Shankar 2020

Anmerkung des Herausgebers:
Dieser Leser gibt zu, dass bei der ersten Lektüre dieses Artikels die Worte tabula rasa in den Sinn kamen – begleitet von einer gewissen Freude. „So viel zur Gedankenlosigkeit" war der nachfolgende Gedanke. Und doch ist das Erscheinen eines Wortes oder einer Emotion im Verstand, wie die Weisen offenbaren, genau die Gelegenheit, die in unserem täglichen Leben regelmäßig vorkommt, den Verstand zu verstehen. Der Gedanke, dass Gedankenlosigkeit unmöglich sei, mag die Moral untergraben, und doch bietet er eine allmähliche Einsicht in den Verstand, unseren Begleiter im Leben. Dies zu verstehen, ist der Weg zu erkennen, wer man wirklich ist. Lebe das Leben, wie es geschieht.
Julian Capper. Großbritannien.  

Anmerkung des deutschen Übersetzers: 
Hoffnungen im Alltag quälen den Menschen, ohne dass er es merkt. Mit Hoffnung auf Besserung oder Veränderung erkennt das Ego an, dass das, was gerade ist, sich unbedingt ändern sollte, um das Leben wieder akzeptieren zu können. Dr. Shankars Artikel zeigt, dass dieses Unbehagen, das Hoffnungen im Alltag erzeugen, bei spirituell interessierten Menschen schließlich eine neue Hoffnung weckt: Die Hoffnung auf Erleuchtung. Dann hofft man, den richtigen Weg zur Erleuchtung einzuschlagen, ihn auf die richtige Weise zu verfolgen und man hofft schließlich, dass die Erleuchtung möglichst bald erreicht wird. Der Widerspruch in dieser Denkweise wird dem Leser dieses Artikels deutlich vor Augen geführt und, wenn es so sein soll, aufgelöst. Die Erleuchteten erkennen, dass die Vorstellung, Hoffnung sei real im Leben, der Erleuchtung im Weg steht. 
Marcus Stegmaier, Deutschland.

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