Dr. Vijai S Shankar MD.PhD.
Published on www.academy-advaita.com
Niederlande
30 November 2019 

Unruhe (5)

„Ungeduld"

 

Als sich das Leben höher entwickelte und der Urmensch ein Wort wusste, war er von dem Wort begeistert. Dagegen fragte sich der Urmensch, der nur auf den Ton hörte und nicht auf das Wort: Weswegen ist dieser Mensch so aufgeregt? Wozu?

Er gibt den gleichen Ton von sich wie ich. Aber er ist den ganzen Tag aufgeregt. Es mag nur ein Wort für einen Baum oder ein Blatt gewesen sein oder was auch immer es war. Er wäre den ganzen Tag in seinem Leben herumgehüpft und hätte das Wort ausgesprochen.

Da dieser Ton „Baum“ oder „Blatt“ zu einem Wort für seinen Verstand geworden war, war er davon begeistert. Als das Leben in jedem primitiven Mann und jeder primitiven Frau Töne zu Wörtern höher entwickelte, waren sie niemals begeistert von Wörtern.

Daher ist es, wenn ein Kind instinktiv den Ton „Mama" ausspricht, ein Wort für die Eltern. Die Eltern sind begeistert, aber nicht das Kind, denn für ein Kind ist es allein Ton. Auch weiß das Kind nicht, dass es Töne von sich gibt. 

Doch während das Kind wächst, wird die Intelligenz im Leben den Intellekt und das Gedächtnis des Kindes höher entwickeln. Das Kind fängt an, Wörter zu kennen. Das ist der Beweis, dass das Gedächtnis nur erforderlich ist, um Wörter und ihre Bedeutungen zu erkennen, aber nicht, um das Leben zu führen. Das Leben wird sich selbst so führen, wie es bestimmt ist geführt zu werden.

Wenn du denkst, du bräuchtest dein Gedächtnis, um das Leben zu führen, stimmt das nicht. Du brauchst das Gedächtnis, um das Leben zu erkennen, das von der Intelligenz im Leben geführt wird.

Aber warum ist ein Kind von Farben begeistert? Das Erscheinen der Farben ist neu. Das Erkennen ist neu. Visuelle Reize erregen dich und ersetzen die Erregung durch ein Wort aus dem Gedächtnis.

Wirst du etwa nicht aufgeregt, wenn du etwas siehst, das du noch nicht gesehen hast? Wenn dir jemand davon erzählt, bist du nicht so aufgeregt als wenn du es zu sehen bekommst.

Und so ist das Leben. Nur das Illusionäre kann gekannt werden. Das Reale kann niemals gekannt werden, weil das Reale niemals bekannt sein kann. Das Illusionäre ist nur dazu bestimmt, verstanden zu werden, und du kannst nur das Illusionäre verstehen und nicht die Realität. 

Mit diesem Verständnis wirst du geduldig ohne Unruhe. Du wirst das Illusionäre als illusionär verstehen; nicht das Illusionäre als eine Realität. Aber der Mensch denkt, er werde sich am Realen erfreuen, wenn er es findet. Auf keinen Fall. Du kannst das nicht. Es wird dir nicht möglich sein. Du wirst immer ungeduldig sein, und ohne das oben genannte Verständnis wird Unruhe in deinem täglichen Leben herrschen.

Die Erleuchteten verstehen, dass du zu sehen bekommst, was du zu sehen bestimmt bist, dass du zu hören bekommst, was du zu hören bestimmt bist, und dass du kennenlernen wirst, was du zu wissen bestimmt bist. Deshalb sind die Erleuchteten geduldig und weder ungeduldig noch unruhig. 

Autor: Dr. Vijai S. Shankar
© Copyright V.S. Shankar 2019

Anmerkung des Herausgebers:
Wenn der Mensch tatsächlich beginnt, über die Intelligenz des Lebens nachzudenken, wie sie von den Weisen offenbart wird, verändert sich seine Beziehung zum täglichen Leben und zu jenen, denen er begegnet. Wenn dies geschieht, geschieht es genau so, wie es bestimmt ist. Währenddessen verlieren seine konditionierten Überzeugungen und Reaktionen ihre Kraft und das Streben nach Ergebnissen weicht Akzeptanz und Dankbarkeit. Sein Vertrauen in das Gedächtnis – ein vorherrschender Schauspieler in seinem Wachzustand – weicht kindlicher Unmittelbarkeit und Freude. Ein Mann oder eine Frau ist nicht länger ein Sklave der Ungeduld und Unruhe, wenn ihm oder ihr Verständnis geschieht.
Julian Capper. Großbritannien 

Anmerkung des deutschen Übersetzers: 
Wir glauben, wenn wir ein Wort kennen, können wir es benutzen, es sagen, um zum Beispiel unsere Wünsche auszudrücken. Doch Dr. Shankar macht es in diesem Artikel klar: Zuerst kommt der Ton, zuerst gibt der Mensch Töne mit einem bestimmten Klang und Rhythmus von sich, und später erst entwickelt sich in seinem Verstand die Erinnerung, die dazu führt, dass eine bestimmte Tonfolge als ein bestimmtes Wort mit Bedeutung erkannt wird. Dann geschieht dem Menschen weiterhin in seinem Leben der Gebrauch von Worten, das heißt, das Äußern von bestimmten Tonfolgen, die als Worte in Erscheinung treten, und zwar ohne dass er dafür das Gedächtnis benötigt, um die Laute zu formen. Das Gedächtnis ermöglicht ihm einfach nur, die vom Leben durch seinen Körper geformten Laute als Worte zu erkennen. Im Artikel ist es so ausgedrückt: „Wenn du denkst, du bräuchtest dein Gedächtnis, um das Leben zu führen, stimmt das nicht. Du brauchst das Gedächtnis, um das Leben zu erkennen, das von der Intelligenz im Leben geführt wird.“ Eine einfache Beobachtung mit unglaublicher Tiefe, wenn sie tief verstanden wird. 
Marcus Stegmaier, Deutschland. 

back to articles page