Dr. Vijai S Shankar MD.PhD.
Published on www.academy-advaita.com
Niederlande
5 Februar 2020  

Erwachen (3) 

„Prozess“

 

Verstehe, dass du, wenn eine Handlung im Gange ist, erst dann Bescheid weißt, wenn die Handlung abwesend und nicht anwesend ist. Verstehe auch, dass eine Handlung nicht im Moment durch eine Handlung vermittelt werden kann. 

Eine Handlung kann nicht durch Worte im Moment vermittelt werden, denn, wenn eine Handlung im Moment stattfindet, ist ein Wort abwesend. Verstehe, dass, wenn Handlung durch Worte vermittelt wird, die Handlung eine Illusion von Ton ist und daher nicht real ist. 

Verstehe, dass man Handlungen nicht durch Worte vermitteln kann. Das ist der Zustand, in dem du dich befindest, aber du wirst sagen: Ich weiß, was passiert ist. Du wirst sagen, dass er das getan hat. Verstehe, dass du, nachdem die Handlung vorüber ist, deine Meinung und deine Interpretationen dazu erfährst. 

Verstehe, dass die Meinung und die Interpretationen über die Handlung optische und auditive Illusionen von Licht und Ton sind, was in jedem Moment ein einzelner Fluss des Lebens ist. 

Verstehe, dass Licht und Ton in jedem Moment zusammen sind. Verstehe, dass Licht und Ton nicht voneinander getrennt werden können, so wie Zeit und Raum nicht voneinander getrennt werden können und in jedem Moment zusammen sind.

Verstehe, dass du Wissen durch Worte erfährst, die Illusionen von Ton sind. Und das ist ein schrittweiser Vorgang: Schritt für Schritt sammelt man Worte aus der Schule, der Mittelschule, dem Gymnasium, der Universität. Es ist ein schrittweiser Vorgang.  

Aber die Frage - wer bin ich wirklich? - ist ein tiefer, Verständnisprozess. Es ist ein Prozess, durch den man sich an das erinnert, was man vergessen hat. Es ist ein Prozess und dieser Prozess ist das Leben selbst.  

Diese Wahrheit, wer ich wirklich bin, ist ein Prozess, den man durchläuft, um zu erkennen, was man noch nicht ist. Und dieser Prozess ist das Leben. Man hat dir erzählt, dass du die Wahrheit herausfinden sollst, aber nicht, dass du dir der Wahrheit einfach nur bewusst sein sollst.

Verstehe, dass du dir einfach nur bewusst zu sein brauchst. Das ist das Problem. Das ist die Barriere. Verstehe, dass du den Körper hast, der hier ist, aber dein Verstand mit den Gedanken ist woanders. Du bist gespalten. Verstehe, dass dort, wo du bist, Handlungen Illusionen von Licht und Ton sind. Wenn dieses Verständnis sich festigt, wirst du erkennen, wer du im täglichen Leben wirklich bist.

Die Erleuchteten erkennen, dass der Verstand nicht das ist, was er denkt, dass sie seien.

Autor: Dr. Vijai S. Shankar
© Copyright V.S. Shankar 2020

Anmerkung des Herausgebers:
Der Verstand kann sich mit dem beschäftigen, was im Wachzustand gesagt oder erlebt wird. Auf eine solche Auseinandersetzung folgt normalerweise eine sofortige und unkontrollierbare Reaktion. Die Reaktion erlaubt keine Pause zum Nachdenken, sie kann eine positive oder negative Meinung oder Interpretation dessen sein, wem man begegnet oder was gerade passiert. Diese Meinungen und Interpretationen sind unsere Begleiter in unserem Alltag und stehen in Harmonie oder im Kriegszustand mit anderen. Wenn du auf eine Party gehst, wirst du mit großer Wahrscheinlichkeit einer Person vorgestellt, die du noch nie getroffen hast. Mit einem Mal wird er oder sie zu deiner Meinung und umgekehrt – und das ist derjenige, den du getroffen hast. Das ist eine erkennbare Begebenheit aus deinem Leben, nicht wahr? Der Prozess des Verständnisses, wie die Weisen hier und anderswo offenbaren, ist das Leben selbst. Das Leben lässt sich nicht leugnen: Es ist genau das, was es in jedem einzelnen Moment ist. Sei im Leben bewusst und genieße das Geschenk des Vertrauens.
Julian Capper. Großbritannien.  

Anmerkung des deutschen Übersetzers: 
Die Vermutung über einen Menschen, über eine Tat oder über eine Äußerung, die wir beobachten, kann leicht einer Gewissheit gleichkommen, für Realität gehalten werden. Was auch immer geschieht, es wird vom Verstand meist nicht einfach nur als ein beobachteter wertungsfreier Vorgang beschrieben und danach gesondert bewertet, so illusionär auch immer. Die häufigste Art der mentalen Aufnahme eines Vorgangs, einer Handlung oder einer Person ist, dass sich die Beobachtung mit einer Bewertung sprachlich vermischt, ohne dass man sich dessen auch nur im Entferntesten bewusst ist. Als Beispiel sei genannt, wenn man sieht, wie jemand auf der Couch entspannt liegt, während andere um ihn herum aufräumen, und sich der Gedanke aufdrängt, der liege ja nur faul herum. Dieser wertende Gedanke lässt keine weitere Offenheit zu, was sich hinter der scheinbaren Passivität verbergen könnte, so illusionär auch immer. Derjenige mag müde sein, weil er vorhin schon die anderen Zimmer aufgeräumt hat, also nicht faul. Und selbst wenn es keinen vernünftigen Grund für seine Passivität gibt, so ist die Bewertung Faulheit vollkommen illusionär, denn keiner entscheidet sich fürs Ausruhen oder Herumliegen, es geschieht mit ihm, ob derjenige will oder nicht. Dr. Shankars Artikel und die darin enthaltenen Implikationen für unseren Alltag sind sehr aufschlussreich, wenn man sie in seinem Alltag beobachtet und beginnt, sie tiefer zu verstehen. Dadurch, dass man seine Gedanken für die Realität hält, entstehen Streit und Konflikt oder auch Harmonie, die von Bedingungen abhängig sind. Das Leben als einzelnen spontanen Fluss zu verstehen, macht frei von Bedingungen und eröffnet so bedingungslose innere Harmonie mit dem Leben, wie es nun mal ist, die sich dann auch mit höherer Wahrscheinlichkeit im zwischenmenschlichen Alltagsleben manifestieren kann.  
Marcus Stegmaier, Deutschland. 

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