Dr. Vijai S Shankar MD.PhD.

India Herald

Houston, USA

9. Mai 2008

 

 

Guru ist ein Ehrfurcht gebietendes Wort. Es ist ein antikes Wort, das normalerweise einen Lehrer und Führer bezeichnet. Das Wort bringt Verherrlichung, Hingabe und Liebe mit sich. Es ist ganz offensichtlich, dass „Guruschaft“ zu einer Tradition geworden ist. Ein spiritueller Guru ist so etwas wie ein Mittelsmann zwischen Gott und Mensch. Ein Guru kann auch ein Vermittler von Wissen sein, generell oder im religiösen Sinne. Es ist das Privileg aller Gurus, dass ihnen Verherrlichung und Hingabe entgegengebracht werden. Es gibt viele Gurus, die das gesamte Feld des Wissens abdecken. Sie entsprechen den Professoren im Westen, deren Meisterschaft in alten Sprachen, Schriften, Religion etc. unbestreitbar sind.

 

Das Unterrichten geschah in antiken Zeiten zu Beginn mündlich durch das gesprochene Wort, was noch bis zum heutigen Tag häufig so ist. Diese Art zu Unterrichten wurde durch einfache Formen des Schriftgebrauchs ergänzt, was schon eine Höherentwicklung darstellte. Der nächste Schritt war das Lesen. Diese drei Kommunikationsformen waren die Medien des Unterrichtens. Unterrichtsmethoden sind nicht frei von der Höherentwicklung, der Haupteigenschaft des Lebens. Heutzutage sind die Unterrichtsmedien auch elektronisch und digital. Was uns in der Zukunft erwartet, darüber können wir nur mutmaßen.

 

Doch wer brachte dem Menschen das Sprechen bei? Wer konnte wohl der erste Mensch gewesen sein der die Fähigkeit zu sprechen hatte? Wie konnte der erste Mensch Sprechen gelernt haben ohne die Hilfe eines anderen? Es ist schwer, wenn nicht gar unmöglich, den ersten Menschen auszumachen, der sprechen konnte, oder wer der erste Guru gewesen war, der ihm das Sprechen beigebracht hatte. Es kann mit Sicherheit nicht der Mensch gewesen sein. Es kann auch niemand die Sprache des ersten gesprochenen Wortes ausmachen. Der Punkt, an dem der Mensch zu sprechen anfing, musste ein Geschehen gewesen sein und nicht ein Akt des Unterrichtens. Ebenso muss es sich mit dem Schreiben und Lesen verhalten haben.

 

Der primitive Mensch machte zunächst nur Geräusche, die sich zum ersten Wort verfeinerten, und genau zu diesem Zeitpunkt war der Verstand geboren worden. Wörter begannen, sich eines nach dem anderen im Verstand zu bilden. Der Mensch begann, Wörter zu sammeln, oder besser gesagt: Wörter begannen, sich im Verstand zu sammeln. Als sich genügend Worte gebildet hatten, setzten sie sich als Sätze zusammen, die eine Bedeutung trugen. All dies geschah dem Menschen und er war nicht in der Lage, es selbst zu veranlassen, da der erste Mensch, dem es geschah, unmöglich einen Guru gehabt haben kann.

 

Sprechen ist im Grunde äußerliches Denken und dem entsprechend ist Denken inneres Sprechen. Das bedeutet, dass Denken dem Menschen geschah und er keinen Guru gehabt haben kann, der es ihm beigebracht hatte. Denken war die Höherentwicklung des rudimentären Verstandes. Daraufhin wurde Denken als Sprechen nach Außen gebracht, was einen Punkt der Höherentwicklung im Leben darstellte, der durch das Leben und nicht durch den Menschen geschah.

 

Es ist wichtig, zu verstehen, dass der Denkprozess dem Menschen geschah, dass er sich zu den heutigen phänomenalen Höhen weiterentwickelt hat und dass dies auch weiterhin geschehen wird, denn das Leben schreitet weiter voran. Sprechen war der nächste Schritt der Höherentwicklung, später folgte Schreiben und Lesen. Es gilt zu verstehen, dass dem Menschen diese drei Unterrichtsmethoden, also mündliche Vermittlung, Schreiben und Lesen geschahen, und dass er sie unmöglich selbst hervorgebracht haben kann.

 

Daher ist es unmöglich, den Guru ausfindig zu machen, der dem Menschen diese Formen des Lernens beigebracht haben könnte, und so verhält es sich auch mit neueren Formen des Unterrichtens. Natürlich ist es einfach, denjenigen zu finden, der für den Entwickler dieser Methoden gehalten wird, aber selbst der hätte unterrichtet werden müssen. Niemand kann jemals den ersten Menschen unterrichtet haben, denn dann würde man dessen Lehrer oder Guru für den ersten Menschen halten, dem die Entdeckung zugeschrieben werden müsste.

 

Entdeckungen geschehen dem Menschen ebenfalls und er bringt sie nicht selbst hervor. Wenn er Entdeckungen selber hervorbringen könnte, müsste der erste Mensch, der das erste Wort in seinem Verstand hatte, dies auch selbst hervorgebracht haben. Doch wie hätte ihm das möglich sein sollen? Für das erste Wort wäre ja auch die Anwesenheit eines ihm vorhergehenden Wortes nötig gewesen. Doch da gab es keines, denn der Mensch machte nur Geräusche, wie jedes andere Tier auch, und selbst diese Geräusche, die aus ihm hervorkamen, brachte er nicht selbstständig hervor: Sie geschahen ihm.

 

Daher wurde die Ansammlung von Wörtern im Verstand zu Wissen, und was dem Menschen als Wissen zukam, wurde anderen mündlich oder durch geschriebene Worte und Vorlesen übermittelt. Diese Wissensübermittlung war nicht wirklich eine Übermittlung, wie das Wort eigentlich suggeriert. Wissen kommt von Innen, ebenso wie es dem ersten Menschen geschah. Das Treffen zwischen dem Guru und dem Schüler ist ebenso ein Geschehen wie Denken, Sprechen, Schreiben und Lesen.

 

Wenn das Zusammentreffen geschieht, fällt es zeitlich mit dem Wissen, das dem Schüler geschieht, zusammen, während dem Guru die Darlegung des Wissens geschieht. Ein perfektes Szenario wird mit den Rollen Guru, Schüler und dem Lehren in Aktion gesetzt. Das ist eine Illusion, denn was wirklich geschieht, ist eine einzige Bewegung und diese projiziert eine Begegnung von Guru und Schüler, der Lehre des Gurus und der Übermittlung von Wissen. Tatsächlich wird das Wissen des Gurus wiederholt und das Wissen im Inneren des Schülers erscheint im Verstand.

 

Es ist also wichtig, zu verstehen, dass dem Menschen jede Art von Wissen einfach geschieht, vom Leben gelehrt und nicht vom Guru, wie allgemein angenommen wird. Guru ist ein Ausdruck des Lebens und in Wirklichkeit kein Mensch, er erscheint lediglich als Mensch.

 

Bald kam ein spezielles Wissen ins Dasein, das Religion und Spiritualität bildete. Das Wissen über Gott wurde Religion und das Wissen, wie man zu Gott werden könne, wurde Spiritualität. Jene, denen dieses Wissen zuteil geworden ist, sind als religiöse und spirituelle Gurus bekannt. Wissen vermehrte sich weiter im Verstand des Menschen und schließlich wurde die Erkenntnis der Illusion des Verstandes vom Menschen verstanden. Dieses Verstehen war ebenfalls ein Geschehen. Diese Menschen sind als Weise oder erleuchtete Wesen bekannt.

 

Erleuchtete Wesen sind diejenigen, die das Leben als zeitlos und gedankenfrei wahrnahmen, und daher ist die Möglichkeit, dass der Mensch der Handelnde, der Sprechende oder der Denkende sei, illusionär und nicht real. Ein Guru ist der, der die illusionäre Welt erklärt, die den Menschen und seinen Verstand mit einschließt, und zwar im Detail. Ein Guru ist nicht etwa jemand, der behauptet, die Welt sei eine Illusion. Das ist Wissensvermittlung, die, wenngleich begeisternd, kein Verstehen ist, das den Menschen von Ärger, Hass, Eifersucht etc. befreit, und das ist es, was seinen Verstand Tag für Tag quält.

 

Das Leben ist Licht und Wissen ist eine illusionäre Manifestation von Tönen. Diese Illusion ist die Verfeinerung von Ton. Schon früh geschahen dem Menschen spirituelle Techniken. Die Techniken waren körperliche oder mentale Methoden. Die mentalen Methoden waren Meditation und damit in Verbindung stehende Yogatechniken und Yoga-Körperhaltungen. Entsprechend den Geschehnissen im Verstand, waren die Handlungen nichts weiter als eine optische Illusion von Handlungen. Eine einzige Bewegung des Körpers erschien als eine spirituelle Handlung im Verstand und eine perfekte optische Illusion aus Licht wurde in Bewegung gesetzt. So projizierten die mentalen wie die körperlichen Bewegungen eine optische und auditive Illusion von Religion und Spiritualität.

 

So manifestierte das Leben akademische, religiöse und spirituelle Gurus nur als Illusionen und nicht als Realität. Wenn die Welt, wie die erleuchteten Wesen behaupten, eine Illusion ist, und das steht hier außer Frage, macht das alle Gurus illusionär und nicht real, einschließlich ihrer Lehren und ihrer mentalen und körperlichen Techniken. Wissen, altes und zeitgenössisches, was sich höher entwickelt hat, ist illusionär und nicht real. Der Verstand geschah dem Menschen. Bereits bevor der Verstand dem Menschen geschah, geschah ihm das Leben. Als dem Körper eine Höherentwicklung geschah, widerfuhr dem Verstand dasselbe. Die körperliche Höherentwicklung war immer dem Verstand voraus. Der Körper ist eine optische Illusion aus Licht, während der Verstand eine auditive Illusion aus Tönen ist. Das Licht erscheint zuerst, gefolgt vom Ton.

 

Wissen über Spiritualität verfeinerte sich ebenso von rudimentären Erfahrungen zu der heutigen mannigfarbigen Version. Spezialeffekte sind nicht nur dem Kino vorbehalten: Es gibt sie auch in der Spiritualität. Darauf spezialisierte Gurus sind Profis für spirituelle Spezialeffekte. Das ist die Bedeutung von Einheit. Professionelle gibt es in jedem Zweig des Wissens, der Spiritualität und der Religion – sie sind keine Ausnahme. Spiritualität in jeder Form gibt dem Menschen lediglich das Gefühl der Überlegenheit gegenüber anderen, ein Gefühl von „heiliger-als-du“. Dieses Gefühl von Überlegenheit kann nicht heilig sein, denn es widerspricht dem spirituellen Leitsatz, alle Menschen seien gleich.

 

Der Körper ist ununterbrochen in Bewegung von seiner Geburt bis zu seinem Tod. Tatsächlich ist das, was den Körper erzeugt, in ständiger Bewegung und es ist praktisch unmöglich, den Anfangspunkt des Körpers zu bestimmen. Das ist genau der Grund, warum das Leben ohne Ursache und Wirkung ist. Die Geburt des Körpers ist lediglich eine Höherentwicklung dieser Bewegung. Dementsprechend war der Verstand das nächste, was sich weiterentwickeln musste. Die Bewegung des Körpers ist in Wirklichkeit die Bewegung von Lichtwellen, und wenn sie sich bewegen, erzeugen sie Töne. Die Töne verfeinerten sich so, dass sie Wörter mit Bedeutung formten. Sätze formten sich bald im Verstand und eine nicht akkurate Beschreibung der Körperbewegung wurde im Verstand erzeugt. Diese ungenaue Beschreibung beschrieb eine illusionäre Handlung. Diese Beschreibung entwickelte sich später höher zu Erfahrungen, die im Verstand als Vorstellungen existieren und nicht im Leben präsent sind.

 

Erfahrungen sind daher Gedanken und keine tatsächlichen Handlungen im Leben. Spirituelle Erfahrungen sind ebenfalls Gedanken und existieren nicht tatsächlich im Leben. Das gesamte Leben ist spirituell, denn alles, einschließlich des Menschen, ist ein Ausdruck des Lebens. Wenn dies so ist, und das ist der Fall, dann ist alles und jeder dem anderen ein Guru. Jede Situation, so illusionär sie auch sein mag, ist nichtsdestoweniger ein Guru, denn sie offenbart das Verstehen, dass jede Situation im alltäglichen Leben, in der Religion und in der Spiritualität illusionär ist.

 

Die Welt ist spirituell, so wie sie ist, und jeder ist spirituell, so wie er ist. Allein der Versuch, spirituell zu werden oder die Welt zu verändern ist eine Beleidigung dessen, was immer spirituell ist, nämlich alles in dieser Welt. Denken, Sprechen und Handeln geschehen dem Menschen als eine Illusion und nicht als Realität, denn das Leben ist eine einzige, spontane, unkontrollierbare und unvorhersagbare Bewegung von Licht. Daher ist das Gewöhnliche im Leben das Außergewöhnliche. Immer wenn du auf der Suche nach dem Außergewöhnlichen bist, entgeht es dir in jedem Moment, der vergeht.

 

Ein Guru ist nicht jemand, der dich in ein spezielles spirituelles Verhalten verstrickt, während der Verstand weiterhin mit real erscheinenden Gedanken wie Ärger, Hass, Eifersucht, Zweifel, Misstrauen etc. gefüllt bleibt. Ein Guru ist jemand, der in jedem Detail erklärt, dass der Verstand eine Illusion ist, und der nicht einfach nur wiederholt, dass die Welt eine Illusion sei und Methoden anbietet, um aus der Illusion herauszukommen. Wenn die Welt eine Illusion ist, müssen die Methoden ebenfall illusionär sein.

 

Deine Kinder sind deine Gurus; deine Haustiere sind deine Gurus; deine Diener sind deine Gurus; deine Freunde sind deine Gurus; deine Verwandten, deine alltäglichen Situationen und wer auch immer dir begegnet – alles und alle sind deine Gurus, denn alle, an und für sich und in den Rollen, die sie spielen – wenn diese richtig verstanden werden – offenbaren dir Erleuchtung. Das geflügelte Wort, dass der wirkliche Guru zu dir komme und es keine Notwendigkeit gebe, ihn zu suchen, bedeutet genau das, nämlich dass alles und jeder ein Guru ist und nicht nur der eine, nach dem du auf der Suche bist. Ein Guru ist nicht exklusiv, er ist „all-inclusive“, schließt also alles mit ein. Jeder Moment und alles in diesem Moment, egal wie illusionär, ist ein Guru.

 

© Copyright V.S. Shankar 2008

 

 

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