Dr. Vijai S Shankar MD.PhD. Visionen Deutschland Februar 2009
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Über Hinduismus und alle anderen Religionen gibt es unzählige Bücher. Doch Religion hat den Menschen nicht näher zu Gott gebracht und ihm dauerhaften Frieden beschert oder die Liebe, nach der er sich so sehr sehnt. Und jegliche Hoffnung des Menschen, dass dies in der Zukunft geschehe, kann sich nicht erfüllen, denn der Mensch hatte diese Hoffnung bereits in der Vergangenheit und ist derselbe geblieben, seit er Religion kennt. Jede weitere Abhandlung über Religionen könnte nichts Neues bringen.
Würde sich Religion tatsächlich auf Gott als den allmächtigen Schöpfer beziehen, was allgemein angenommen wird, könnte der Mensch ohne zu zögern jede Religion annehmen. Doch er nimmt nur jenen Glauben an, in den er nach der Geburt eingeführt wird, und hält sich sichtlich zurück, anderen Religionen die gleiche Begeisterung entgegenzubringen. Obwohl der Mensch ohne Religion auf die Welt kommt, erhält er diese von der Familie, in die er hinein geboren wurde. Wäre Religion real, müsste er damit geboren sein; das ist er aber nicht. Jede Religion ist erworben und nicht angeboren.
Der vorzeitliche Mensch hatte weder eine Religion noch einen Verstand, um sie zu verteidigen. Verstand und Religion entwickelten sich im Menschen als ein Verfeinerungs-Prozess des Lebens. Wenn die Welt illusorisch ist, wie die Erleuchteten verkünden, dann gilt das auch für die Religion. Unter Illusion versteht man das, was sich verändert und zeitlich begrenzt ist.
Wenn der Hinduismus real wäre, müsste er die einzig vorherrschende Religion sein, was er sicherlich nicht ist, denn real bedeutet, ewig und unveränderlich. Aber seitdem haben sich viele andere Religionen ausgebreitet und der Mensch sollte sich fragen, wie das eigentlich geschehen konnte. Wenn der Gott (oder die Götter) in den hinduistischen Schriften real wäre, dann hätte dieser Gott sicherlich den Gott in jeder anderen Religion erschaffen. Wenn eine bestimmte Religion beansprucht, dass ihr Gott der Schöpfer sei, dann hätte dieser Gott die erste Religion erschaffen und ebenfalls deren Gott. Wäre in diesem Fall der erste Gott, geschaffen von einem anderen Gott, irreal?
Die Wissenschaft, als eine Fortentwicklung des Lebens, hat genug Beweise dafür, dass das Leben ein Umwandlungs-Prozess von Energie ist. Und Gott und die Welt können von dieser Energie nicht getrennt sein. Wäre der Mensch von Gott getrennt, könnte er nicht überleben. Jeder Moment ist Gott und damit Energie.
Doch warum gibt es heute so viele Religionen in der Welt? Wäre eine nicht genug? Oder bilden alle eine Religion? Nun, gäbe es nur eine einzige Religion, würde man nicht an Gott denken. Es gibt die vielen Religionen, damit man sich an Gott erinnert. Die Erinnerung ist möglich aufgrund von Dualität; verschiedene Religionen bilden einen Kontrast zueinander und dies ermöglicht dem Menschen, sich an Gott zu erinnern.
Wenn ein Glaubensatz einer Religion in den Schriften einer andern nicht gefunden werden kann, bedeutet das nicht, dass der Glaubenssatz falsch oder unwahr ist.
Es besagt nur, dass dieser Glaubenssatz in einer anderen Religion aufgeschrieben wurde, die aber ebenso eine Religion von Gott ist. Das Leben ist eins, und jede Religion spricht auf verschiedene Weise anerkennend von diesem Einssein. Religionen scheinen nur getrennt zu sein, denn jeder Glaubenssatz ist in allen anderen vorhanden, entweder subtil oder eindeutig. Die starken Glaubenssätze machen eine Religion aus und kommen dennoch auf subtile Weise in den anderen vor und umgekehrt.
Im Hinduismus gibt es viele Götter mit vielen Gestalten und zugleich einen einzigen Gott ohne Form und Gestalt. Gott erscheint in vielfältiger Art, um darauf hinzuweisen, dass alle Formen eine Reflektion der zugrunde liegenden Energie sind, die Gott ohne Form ist. Manche Kinder werden deformiert geboren, mit zu vielen Armen und Beinen, zusammengewachsen etc., doch etliche Götter im Hinduismus zeigen ganz ähnliche Deformationen, ein Hinweis darauf, dass alle Formen eine Reflektion des Göttlichen sind. Im Hinduismus erscheinen auch Tiere als Götter, nur um anzudeuten, dass auch sie eine Reflektion dieser Energie, genannt Gott, sind. Indem Gott Tier- und Menschenform annimmt, werden wir daran erinnert, dass die menschliche Form eine Höherentwicklung des Tiers ist. Im Hinduismus kursieren Geschichten, dass Gott in Bäumen zu finden ist, um zu zeigen, dass auch das Pflanzenreich eine Reflektion von Gott oder Energie ist.
Der Hinduismus hat viele Namen für Gott, außerdem ist Er auch namenlos. Diese Vielfalt an Namen deutet darauf hin, dass alles mit einem Namen eine Reflektion Gottes ist und Gott nicht benannt werden kann; das zeigt wiederum, dass Er namenlos ist. Der Glaube, Gott habe einen Namen, hält die illusorische Natur von einem Gott mit Namen als real aufrecht. Es ist nur eine Frage des Verstehens, dass alle Namen der Materie, Pflanzen- und Tierwelt und des Menschen Seine sind, während Er namenlos bleibt.
Unter Ritual versteht man im wörtlichen Sinn ein religiöses und feierliches Zeremoniell, das eine vorgegebene Handlungsfolge umfasst. Das kann nur bedeuten, dass alle Zeremonien und Handlungen, die entsprechend einer festgelegten Abfolge ausgeführt werden, religiös sind. Daher sind alle Berufe, Haus- und Verwaltungsarbeiten in jeder Kultur ebenso Rituale, einschließlich aller Aktionen, um die Verehrung für Gott und Seine Herrlichkeit zu demonstrieren. Das Leben ist insgesamt ein magisches Ritual.
Der Hinduismus benutzt Weihrauch, Früchte, Feuer, Wasser, Luft, Glöckchen und eine Reihe körperlicher Bewegungen, um anzuzeigen, dass Gott in allen fünf Sinnen gegenwärtig ist: Form für Sehen, Früchte für Geschmack, Weihrauch für Geruch und Glöckchen für den Klang. Die Körperbewegungen weisen darauf hin, dass das Leben eine einzige Bewegung ist, die wiederum Energie oder Gott ist. Götzenanbetung gibt zu erkennen, dass sämtliche Materie eine Reflektion Gottes oder von Energie ist, die auch die Form von Objekten des täglichen Gebrauchs, ob groß oder klein annehmen kann.
Eine bestimmte Form als Gott zu betrachten, ist illusionär, denn sämtliche Formen und Gestalten sind Seine und nichts anderes als eine optische Illusion von Licht. Wenn Gott also auf eine oder vielfache Weise Ehrerbietung erwiesen wird, dann bedeutet das nicht, dass eine Art richtig ist und die andere falsch. Sie sind alle richtig. Es muss verstanden werden, dass der Mensch nicht getrennt von Gott existieren kann, um zu Ihm zu beten oder Ihm zu huldigen, da Gott überall ist. Menschen, Handlungen und Gedanken sind eine illusorische Manifestation von Licht und Klang, die Gott ist.
Religion bedeutet eigentlich, sich mit dem wahren Selbst zu vereinen, aber die bestehenden Religionen haben nicht nur die Menschen untereinander entzweit, sondern ihn auch von der Natur getrennt. Der Mensch ist Teil der Natur; es gibt nirgendwo irgendeine Trennung, denn das Leben ist Energie.
Ein Hindu zu sein bedeutet, einen “Hindu-Verstand“ zu haben, so wie der Christ eine christliche Konditionierung besitzt, usw., und eine Religion kann gewechselt werden, falls der Mensch ihre Glaubenssätze akzeptiert. Wäre Religion real, könnte das nicht geschehen. Demzufolge ist Religion im Verstand und nicht im Leben, das ohne Zeit und Gedanken ist. Solange der Mensch die illusorische Natur seines konditionierten Verstandes nicht versteht, wird er ein Mensch bleiben, durchschaut er sie jedoch, wird er zu einem erleuchteten Wesen.
Alle Lehren und die Vorstellung von einem Lehrer und Traditionen sind Illusion, weil sie nur Gedanken im Verstand sind. Der Mensch muss erkennen, dass, obwohl er denkt, spricht und handelt, dies ohne sein Zutun geschieht. Er muss verstehen, dass das Leben eine einzige Bewegung ist, zeitlos und gedankenfrei. Diese Bewegung transformiert sich spontan, unkontrollierbar und unvorhersehbar. Weder Verstand, Handlung noch ein Individuum können im Leben existieren. Advaita ist kein Teilaspekt des Hinduismus oder Indiens. Advaita ist das, was das Leben ist. Niemand muss irgendwo hingehen, um zu begreifen, was Leben ist. Das Leben ist überall und kann verstanden werden, wo immer man ist.
Die Welt, Religion und Gott sind nicht das, was der Verstand über sie sagt. Alles, worüber der Verstand etwas zu wissen meint, einschließlich Religion und Gott, verschwindet im Tiefschlaf, was wiederum beweist, dass sie eine Täuschung sind und nicht real. Keine Religion ist besser oder wahrer als eine andere. Alle Religionen sind dasselbe, denn sie sind alle im Verstand als Glaubenssätze, und alle Glaubenssätze bilden letztlich eine einzige Religion. Die Welt, der Mensch und der Verstand sind eine optische und akustische Illusion aus Licht und Klang. Mit diesem Verständnis wird man zu einem wahrhaft religiösen Menschen, vereint mit Gott.
© Copyright V.S. Shankar 2008
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