Dr. Vijai S Shankar MD.PhD.

India Herald

Texas, USA

31.12.2008

 

 

 

“Der Moment ist die Reise”

 

Eine Reise ist eine Bewegung von einem Ort zu einem anderen. Eine Reise ist eigentlich eine Bewegung, aber der zu erreichende Ort, das Ziel, wird und ist wichtiger als die Reise selbst. Eine Reise kann kurz oder lang sein. Ein Besuch im Nachbarzimmer ist eine Reise, wer könnte das bestreiten? In jedem Fall liebt der Mensch Reisen, ganz egal wie kurz sie sind.

 

Es gibt viele Reisen des Menschen. Mancher ist er sich bewusst, andere bemerkt er nicht als solche. Alltägliche Pflichten, von denen der Mensch denkt, er müsse sie erledigen, sind Reisen, erscheinen ihm aber nicht als solche: er sieht sie als lästige Pflichten an. So erscheint dem Menschen also jede Bewegung, die den Verstand begeistert, als eine Reise. Eine lästige Pflicht begeistert den Verstand nicht und erscheint dem Menschen daher nicht als Reise, obwohl das der Fall sein sollte; es handelt sich um eine Reise jetzt und in Zukunft, ob es ihm gefällt oder nicht.

 

Eine Reise kann begeistern, enttäuschen oder ein bisschen von beidem. Das hängt davon ab, ob der Mensch sie akzeptiert oder ablehnt, sei es teilweise oder insgesamt. Er möchte von allen seinen Reisen begeistert sein und betet und hofft, dass sie niemals enttäuschend sein mögen; er glaubt auch daran, dass das nicht passieren sollte. Der Mensch glaubt, dass es von ihm abhängt, die Reise so zu gestalten, wie er sie sich vorstellt, und dass sie begeisternd sei und zwar ausschließlich begeisternd und niemals enttäuschend.

 

Eine Reise kann ein Abenteuer jeglicher Art sein, eine Pilgerreise, Ferien oder verschiedene Arten von Expeditionen. Es kann auch eine Seefahrt sein, um auf Entdeckungsreise zu gehen oder um eine Sehenswürdigkeit aufzusuchen; oder eine Reise ins Weltall oder auf den Mond. Der Mensch unternimmt solche Reisen nicht jeden Tag. Es geschieht gelegentlich – geplant oder als spontanes Geschehen. Es bringt Überraschungen mit sich oder erfüllt die Erwartungen, und der Wunsch nach Wiederholung hallt im Verstand nach.

 

Alltägliche Reisen sind u.a. Besuche im Supermarkt oder auf dem Stadtmarkt. Die Reise zum Arbeitsplatz ist ebenfalls eine Reise, die man einerseits ersehnt, von der man sich andererseits jedoch erholen möchte. Die tägliche Reise vom elterlichen Zuhause zur Schule gleicht für das Kind oft einer Blitzevakuierung aus einem Katastrophengebiet oder auch einer geordneten Militärparade. Höhere Bildung ist mit Spannung erfüllt und hat eine Spur von Abenteuer für diejenigen, die danach streben, aber es ist nichtsdestoweniger eine Reise. Es gibt viele seltener unternommene Reisen, beispielsweise zu Unterhaltungsstätten, zum Zoo, zur Eisdiele, zum Einkaufszentrum usw. Der Mensch unternimmt jeden Moment eine Reise, denn er ist jeden Moment in Bewegung. Jeder Punkt ist eine Reise und Gleichzeitig ein Zielort. Eine kleine Bewegung des Körpers, wie ein Zucken des Augenlides, wäre also eine Reise und es ist auch eine.

 

Die Ehe ist für manche eine lange Reise und für andere ist sie kurz. Dies ist eine Reise, die bis zum Tode andauert, oder auch nicht. Wie kurz eine Ehe sein wird ist unvorhersehbar. Die Nachwirkungen einer Scheidung sind wiederum eine schmerzvolle Reise, durch die der Mensch hindurch muss. Die Vorbereitungen jeder Reise, seien sie gering oder aufwändig, stellen selbst eine Reise dar.

 

Spirituelle Reisen sind so unterschiedlich wie Hochzeitszeremonien, mit nur einem Unterschied: Sensationsgier, das Kennzeichen jeder spirituellen Reise, und Hoffnung auf Erleuchtung oder die Verlockung einer Begegnung mit Gott, um schließlich Glückseligkeit zu erlangen. Sensationsgier ist nichts weiter als eine Karussellfahrt im Verstand; Altwerden ist das Ergebnis für den Menschen, niemals jedoch Erleuchtung. Sensationsgier bringt den Menschen auf eine Reise ins Lala-Land, eine Phantasiewelt. Erleuchtung kann nicht besessen oder erlangt werden. Erleuchtung ist das Verstehen, dass die Reise das Ziel ist und zwischen beidem keine Trennung besteht.

 

Die Ehe ist andererseits eine schrittweise Entwicklung von anfänglicher Hoffnung auf Eheglück bis zu Ehekrach und der Scheidung am Ende. Dazwischen werden Versprechungen und Hoffnung auf Glück eingestreut – das sprichwörtliche „Gib’ mir noch eine letzte Chance!“ Die Ehe ist eine Reise, in der – anders als bei anderen Reisen – der nackte Verstand, ohne irgendeine Form von erwartetem Verhalten, einer gründlichen Untersuchung ausgesetzt wird. Die Ehe ist eine gewaltige Reise, die den Menschen dazu befähigt die illusionäre Natur des Verstandes zu verstehen.

 

Aber was ist nun die Bedeutung von „Reise“? Reise bedeutet die Fortbewegung von einem Ort zu einem anderen. Die Bedeutung ist ungenau und bezeichnet Ort und Distanz nicht genauer. Ein beliebiger Punkt im Universum würde den Anfangspunkt darstellen und ein beliebiger anderer Punkt würde zum Ziel der Reise werden. Die Entfernung zwischen diesen zwei Punkten würde die Entfernung zwischen den beiden Orten bezeichnen. Im Prinzip bedeutet eine Reise eine Bewegung von einem Punkt zu einem anderen.

 

Das Leben besteht aus solchen Punkten. Die Entfernung zwischen diesen Punkten würde aus weiteren Punkten bestehen, denn das Leben ist Energie und Energie ist überall. Selbst der Raum besteht aus Punkten derselben Energie. In diesem Fall würde eine Reise also niemals als eine Handlung wahrgenommen werden. Eine Reise kann nur eine einzelne Bewegung aus sich selbst transformierender Energie sein. Diese einzelne Bewegung sich selbst transformierender Energie ist eine zusammenhängende, spontane, unkontrollierbare, unvorhersehbare, exakte Bewegung aus Licht. Das Licht reflektiert eine optische Illusion einer Reise.

 

Da das Leben nun Energie ist, ist auch Geburt eine Reise ebenso wie der Tod. Geburt bezeichnet das Ende einer Reise, die als Tod begann, und Tod bezeichnet den Beginn einer Reise, die wiederum in Geburt mündet. Das bedeutet, dass Geburt und Tod denselben einzelnen Punkt einnehmen. Das ist so, weil es keine Trennung zwischen diesen beiden Phänomenen geben kann, da alle Trennungspunkte Punkte derselben Energie wären.

 

Das heißt, Geburt und Tod sind wechselseitig von einander abhängig und stellen einen Prozess von Zusammenfügen und Auflösung in sich selbst dar; sie sind also nicht getrennt voneinander. Dieses Zusammenfügen und Auflösen, was im selben Moment geschieht, ist der Prozess der Verfeinerung des Lebens. Geburt und Tod sind Eines. Das Leben ist also ein Mysterium, denn es ist unlogisch, dass Geburt und Tod Eines sind. Das Wort Geburt bedeutet einen Anfang für das Ego und das Wort Tod bedeutet ein Ende für das Ego.

 

Aber im Leben kann es niemals einen Anfang oder ein Ende geben, denn der Mensch kann den Anfangs- oder Endpunkt nicht bestimmen. Das ist so, weil jeder Punkt ein Punkt von Zusammenfügen und Auflösen ist, ein Prozess der Verfeinerung. Da jeder Punkt ein Punkt des Prozesses der Verfeinerung ist, sind also alle Punkte nur ein einziger Punkt. Das bedeutet der Ausdruck „Einheit des Lebens“. Wenn der Anfang von Geburt und Tod nicht bezeichnet werden kann, kann dann irgendeine Reise, die der Mensch zu untenehmen glaubt, ausgemacht werden?

 

Für den Verstand erscheinen so viele getrennte Reisen des Menschen und diese Reisen sind dieselben, seit dem Menschen Denken widerfährt. Die Reisen haben sich verfeinert in jeder Generation und tatsächlich in jedem Moment; das wird auch weiterhin so bleiben, denn das Leben verfeinert sich jeden Moment. Der Glaube, dass der Mensch sein Leben selbst bestimmen muss, wirkt als Antrieb für den Menschen, solche Reisen zu unternehmen.

 

Warum unternimmt der Mensch eine Reise? Der Mensch unternimmt eine Reise nur um etwas zu „werden“. Beispielsweise: gebildet, wohlhabend, glücklich, mächtig, angesehen, gesund oder erleuchtet. Er ist auch auf einer Reise, um Dinge zu „verhindern“: Krankheit, Einsamkeit, Traurigkeit, Armut, Krieg und alle Gefühle, die er nicht mag. Er kann nur eine Reise zur selben Zeit unternehmen und nicht zwei, daher muss er sich also entscheiden, ob er eine Reise unternehmen möchte, um etwas zu „werden“, oder um etwas zu „verhindern“. Beides zur selben Zeit ist nicht möglich.

 

Angst wird den Menschen zu einer Reise bewegen, die das „verhindert“, was niemals geschehen möge. Gier hingegen verstrickt ihn in das Netz von Reisen, die ihn „werden“ lassen, was er begehrt, sich wünscht und erhofft. Die Reise des „Werdens“ ist eine Reise des Wettkampfes und macht den Menschen kampflustig, indem sie jeden gegen den anderen aufstachelt. Wo Gier ist, erscheint Konkurrenzdenken, sei es in einem Individuum, einer Gesellschaftsform oder einer Nation. Wut, Eifersucht und Hass treten unvermeidbar auf. Diese Gefühle gibt es offenbar in jedem Haushalt, zwischen Gesellschaftsformen, Religionen und spirituellen Richtungen, und auch zwischen Nationen.

 

Im Leben des Menschen sind beide Formen von Reisen miteinander verwoben. Beide geschehen also zur selben Zeit und können nicht voneinander getrennt werden, genauso wie Geburt und Tod. Es ist nicht möglich, dass der Mensch diese Reisen unternimmt, denn er kann ja nur eine Reise in einem Moment unternehmen und nicht zwei. Es ist das Leben, das beide Reisen gleichzeitig und auf derselben Route ermöglicht, nämlich in Form des Prozesse der Verfeinerung, der ein einziger ist und in sich zusammenhängend von seiner Natur aus. Die Verfeinerungsreise des Lebens kann nicht kontrolliert oder vorhergesagt werden. Die Reise des Lebens ist exakt, aber nichtsdestoweniger illusorisch. Die Reise ist eine optische und auditive Illusion aus Licht und Klang. Die Reise des Lebens ist mysteriös, nur um dem Menschen das Verstehen zu geben, dass er oder sie ein Mystiker ist – ewig und erleuchtet – und dass er sich nicht einmal anstrengen muss, um erleuchtet zu „werden“. Sogar diese Anstrengung geschieht, damit der Mensch versteht, dass sie unnötig ist.

 

Welcher Art kann also diese Reise sein, die als viele Reisen erscheint – alle in einer einzigen enthalten – und die den Menschen davon überzeugt, dass es in seiner Macht liege, sie zu unternehmen oder sie abzubrechen? Die Reise ist dafür da, dem Menschen das Verstehen zu bringen, dass er nicht der Denker, Sprecher oder Täter ist. Die Reise ist dafür da, dem Menschen das Verstehen zu bringen, dass der Mensch und der Verstand Illusionen sind und nicht real. Die Reise ist dafür da, dem Menschen das Verstehen zu bringen, dass Anschuldigungen und Kritik einen oberflächlichen Verstand widerspiegeln. Die Reise ist dafür da, dem Menschen das Verstehen zu bringen, dass Gefühle wie Wut, Enttäuschung, Traurigkeit und Eifersucht von Gott hervorgebracht werden und nicht vom Mensch selbst. Die Reise ist dafür da, dem Menschen das Verstehen zu bringen, dass Gott gleichzeitig als die Welt, Mensch und Verstand erscheint. Die Reise ist dafür da, dem Menschen das Verstehen zu bringen, dass das Leben ihn am Leben erhält und dass er sich nicht selbst am Leben erhält. Nur dann, wenn dem Menschen dieses Verstehen geschieht, werden sich Liebe und Dankbarkeit offenbaren.

 

Die Reise ist dafür da, dem Menschen das Verstehen zu bringen, dass alles was ihm zukommen soll, ihm zukommen wird: das Wissen, das er braucht, die Handlungen, die er benötigt und der Besitz, den er haben muss. Auf dieser Reise ist die Reise selbst das Ziel. Die Reise und das Ziel sind am selben Punkt des Lebens wie auch Geburt und Tod, und das ist an jedem Punkt im Leben der Fall.

 

An jedem Punkt ist das Drama dasselbe, nur die Ausprägung schwankt. Jeder Punkt im Leben ist dual und non-dual; jeder Punkt ist Freiheit und Gebundensein gleichzeitig. Jeder Punkt ist Licht und Ton, was im Verstand ein Schauspiel von einer Welt voller Reisen widerspiegelt, was ebenfalls illusionär ist. Die Erscheinung von Pflanzen- und Tierwelt und des Menschen bleibt nur für einen Moment, wie auch Geburt und Tod der Erscheinungen jeden Moment geschehen. Die Reisen des Menschen bleiben nur für einen einzigen Moment, und die Reise des Lebens, vollzieht sich in nur einer Weise – es kann keine alternative Reise geben, wie der Mensch sie sich wünscht oder erhofft. Neben dem Moment, der gerade ist, gibt es keinen Moment, der übrig bleibt, sodass eine alternative Reise geschehen könnte.

 

Der Wert einer Reise, wenn es einen gibt, dauert nur einen Moment lang an, nicht länger, denn es gibt nur diesen Moment. Dieser einzige Moment ist die Ewigkeit. Daher hält der Wert jeder spirituellen Reise, spirituellen Technik und von Yoga nur für einen Moment lang an. Dieser Moment ist nur Licht und Ton, und dieser Moment aus Licht und Ton spiegelt im Verstand, nicht jedoch im Leben, eine optische und auditive Illusion von Handlungen, Situationen und Zeit wider.

 

Der Vorhang hebt sich und das Drama beginnt mit der Geburt, mit dem Tod fällt der Vorhang wieder. Das Paradox in diesem Drama des Lebens ist, dass der Vorhang in jedem Moment des Lebens auf und ab geht. Das Leben ist eine Reise aus Licht und Ton und diese Reise ist alles, was es gibt. Es dauert einen Moment, erscheint aber wie eine ganze Lebensspanne. Daher ist das Leben zeitlos und gedankenfrei. Genieße den Moment, denn er ist eine Reise und das Ziel gleichzeitig – ein wertvolles Geschenk des Lebens.

 

 

© Copyright V.S. Shankar 2008

 

 

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