Dr. Vijai S Shankar MD.PhD.
Published on www.academy-advaita.com
Niederlande
18 Februar 2009

Richtig und Falsch

„Neti Neti"

 

In jedem Haus, in jeder Gesellschaft und in jeder Nation wird das tägliche Leben entweder als richtig oder als falsch angesehen. Wenn das Leben richtig ist, dann scheint das tägliche Leben harmonisch zu sein, aber wenn es falsch ist, dann bricht die Hölle los. Der Mensch ist davon überzeugt, dass das Leben entweder richtig oder falsch sein kann, und er möchte die Angelegenheiten richtig erhalten, oder er versucht es zumindest. Die Zwietracht in jedem Haus zwischen Eheleuten, zwischen jedem Familienmitglied, basiert rein auf den Konzepten von „richtig" und „falsch". Das Gleiche gilt, wo und wann immer Menschen auf Menschen treffen, unabhängig von Ort und Zeit.

Der Mensch ist verärgert, verstört, wütend, traurig, enttäuscht, besorgt, unruhig und hat Angst, mit sich selbst ins Reine zu kommen, wenn etwas schief geht. Er ist labil und fühlt sich niedergeschlagen. Andererseits ist er, wenn die Dinge gut laufen, sozusagen beschwingt, stolz, glücklich und prahlerisch; er fühlt sich auch siegreich. Es ist also kein kleines Wunder, dass der Mensch sich danach sehnt, richtig zu sein und nie falsch zu sein: Es ist eine Frage der Harmonie. Wenn das Leben richtig ist, dann scheint Harmonie zu herrschen, und wenn nicht, dann wird das Leben als disharmonisch empfunden. 

Der Mensch erwartet und besteht darauf, dass Menschen, Gegenstände und Tiere richtig und niemals falsch funktionieren sollen. Er erwartet und besteht darauf, damit er sie benutzen kann. Er erwartet und besteht darauf, dass das Verhalten eines jeden richtig und niemals falsch sein sollte. Für den Menschen ist dies ein ideales Leben. Er scheint zu wissen, was seine Erwartungen und sein Beharren bedeuten, aber warum war es ihm nicht möglich, das Leben entsprechend zu gestalten? Ist er sich sicher, was das Leben ist und ob seine Erwartungen und Beharrlichkeiten realisierbar sind oder nicht? Er glaubt, es zu wissen, und hofft auf den Tag, an dem seine Erwartungen und Bestrebungen Wirklichkeit werden.

Der Mensch betet zu dem Gott, an den er glaubt, damit das Leben immer richtig und niemals falsch sein möge. Er folgt der Religion, die in der Familie, in die er hineingeboren wurde, vorherrscht, in der Hoffnung, dass jeder seiner Wünsche und Sehnsüchte richtig und niemals falsch sein mögen. Er folgt seiner Religion aus keinem anderen Grund, aber diese und jede andere Religion, unabhängig von dem Gott, den sie repräsentiert, ist sehr eindeutig, was richtig und was falsch ist. Jede Religion verkündet und gesteht das Vorhandensein von  „richtig" und „falsch" ein. Aber das Paradoxe ist, dass das, was für eine Religion  „richtig" und „falsch" ist, für eine andere Religion nicht so ist. Wer oder wie könnte der Mensch also bestimmen, was „richtig" und „falsch" wirklich sind? 

Selbst eine Religion, die dem einen Menschen wahrhaftig erscheint, erscheint für den anderen nicht so. Das ist sehr deutlich zu erkennen, denn der Mensch ist verbittert mit seinen Mitmenschen, die einer Religion angehören, die nicht die seine ist. In jeder Religion predigen und präsentieren heilige Menschen Mittel und Wege, um das Leben „richtig" zu machen und das zu besiegen, was als „falsch" angesehen wird. Aber könnte die Religion, die Trägerin der Lehren Gottes, Ansprüche auf Recht und Unrecht erheben? Würde der Gott, den die Religion repräsentiert, etwas manifestieren, was in dieser Welt falsch ist? Es ist schwer vorstellbar, dass er es tun würde, aber dennoch predigt die Religion, dass es so sei. Das ist ein Beweis dafür, dass jede Religion behauptet, dass ihr Gott fähig ist, Unrecht zu schaffen. Könnte eine Religion wirklich religiös sein, wenn sie akzeptiert, dass ihr Gott sich des Unrechts schuldig gemacht hat? Könnte eine Religion religiös sein, wenn sie eine andere Religion als nicht die richtige Religion bezeichnet? Aber auch diese Religion predigt, und sie sollte den ungläubigen Menschen darüber nachdenken lassen, ob das von der Religion gepredigte Unrecht richtig sein könnte.

Der Mensch kann nichts „Falsches", geschweige denn „Richtiges" schaffen, denn er ist nicht der Schöpfer seiner selbst. Wäre er es, dann hätte er dafür gesorgt, dass er sich selbst richtig erschafft, und könnte daher in keinem Fall falsch liegen. Man glaubt, dass Gott den Menschen erschaffen habe, und wenn dem so wäre, dann wäre er in jeder Hinsicht real – real bedeutet das, was sich nicht ändert und überall und ewig ist. Die Tatsache, dass der Mensch glaubt, dass er entweder Recht oder Unrecht haben könnte, und gleichzeitig nicht genau vorhersagen kann, wann er es sein würde, beweist, dass er weder richtig noch falsch erschafft. Alles, was er sagen kann, ist, dass er plötzlich entweder richtig oder falsch liegt, und das ist das Wissen eines jeden Menschen, „dass er überrumpelt wird". 

Wer könnte es dann sein, der richtig oder falsch erschafft? Vielleicht gibt es nichts absolut Richtiges oder Falsches. Vielleicht sind richtig und falsch illusionär, so wie es die Erleuchteten verkündet haben. Der Mensch muss das Illusionäre als illusionär begreifen, anstatt sich – was ebenfalls illusionär wäre – zu bemühen, dem Falschen zu entkommen oder es zu korrigieren. 

Der Mensch entscheidet sich für den allmächtigen Gott und glaubt, dass Gott allmächtig sei, und es ist nicht nötig, ihn davon zu überzeugen. Er stirbt und tötet seine Mitmenschen für seine Religion und kämpft mit Waffengewalt, um die Ehre Gottes zu beschützen. Wenn Gott wirklich allmächtig wäre, wäre Er dann nicht in der Lage, Seine eigenen Entscheidungen zu treffen? Der Mensch glaubt, dass er sich für Gott entscheiden könnte und auch sollte, um sozusagen Gottes Ehre zu schützen. Er wünscht jedoch nicht, dass irgendein Mensch für ihn entscheidet, denn er sagt: „Misch dich nicht in mein Leben ein; ich weiß, was zu tun und zu entscheiden ist.“ Würde Gott wollen, dass sich jemand in Sein Leben einmischt? Würde Gott verlangen, dass sich der Mensch in Sein Leben einmischt? Das ist sicherlich undenkbar. Wenn es so wäre, wie sicher könnte der Mensch dann sein, dass Gott sein Retter ist und sein wird? 

Der Mensch ist sich bewusst, dass er im Alltag manchmal keine Entscheidung für sich selbst treffen kann. Wäre er der Handelnde, müsste er sich nicht jederzeit entscheiden: Er könnte tun, was er will. Nur wenn er sich in seinem Leben überhaupt nicht entscheiden müsste, hätte er die Autorität, für Gott zu entscheiden, sonst nicht. Wenn dem nicht so wäre, wie könnte der Mensch dann für Gott entscheiden? Vielleicht wird Gott überhaupt nicht beleidigt und Seine Ehre steht nie auf dem Spiel. Wäre Gott nicht in der Lage, für Sich selbst zu entscheiden, da Er ja allmächtig ist? Wenn Gott den Menschen bräuchte, um für Ihn zu entscheiden und Seine Ehre zu beschützen, würde das nicht den Menschen allmächtig machen und nicht Gott? Könnte das jemals richtig sein? Der Mensch muss nachdenken. Auch das geschieht, damit der Mensch verstehen kann, wie illusionär er und sein Verstand sind.

Der Mensch beschließt, die Ehre Gottes zu schützen, weil in einigen religiösen Texten verkündet wird, dass er sie schützen soll. Würden solche Verkündigungen nicht religiöse Schriften falsch machen? Warum sollte Gott solche Schriften schreiben, wenn doch alle in jedem Moment Seine Schöpfung sind? Man muss bedenken, dass Gott die religiösen Schriften als Mensch geschrieben hat, damit der Mensch die illusionäre Natur der Glaubensvorstellungen verstehen kann. Gott muss in jedem Moment lebendig sein, um den Moment lebendig zu halten.

Der Mensch liest Heilige Schriften, weil er glaubt, dass sie ihm einen Weg zum rechten Leben aufzeigen werden. Er kommt in Scharen zu einem heiligen Mann, weil er glaubt, dass der heilige Mann ihm seine Wünsche und Erwartungen erfüllen wird und kann. Das ist der einzige Grund, warum die Menschen zu einem heiligen Menschen und nicht zu einem anderen in Scharen hinlaufen. Der Mensch respektiert und akzeptiert, dass das Wort eines Erleuchteten wahr ist, und die Erleuchteten haben verkündet, dass die Welt illusionär ist. Wenn das so ist, wären dann nicht auch die Erwartungen und das Insistieren des Menschen, dass alles richtig und niemals falsch sein sollte, ebenfalls illusionär?

Der Mensch wird durch Urteile über richtig oder falsch bewertet; er wird nie so angenommen, wie Gott ihn geschaffen hat. Er ist davon überzeugt, dass er im Leben entweder richtig oder falsch liegt, aber kein Mensch ist absolut richtig oder falsch. Es ist schwierig oder fast unmöglich, einen Menschen zu finden, der sein ganzes Leben lang entweder richtig oder falsch gelegen hat. Jeder möchte immer Recht haben, und niemand wünscht sich, auch nur einmal in seinem Leben falsch zu liegen. Der Mensch glaubt, dass es ihn nicht zu einem guten Menschen macht, wenn er falsch liegt, aber richtig zu liegen, schon.

Wenn der Mensch immer „richtig" sein will, kann er es sein, weil er glaubt, dass er der Handelnde ist. Gott würde ihn definitiv nicht davon abhalten, „richtig" zu sein, damit er falsch liege. Der Mensch würde sich auch definitiv nicht davon abhalten, richtig zu liegen, damit er falsch liegen könnte. Es könnte also nur ein Beobachter sein, der ihn entweder falsch macht oder ihn als falsch identifiziert. Würde das den Beobachter nicht falsch werden lassen, indem er den Menschen entweder als falsch identifiziert oder ihn falsch macht? Das würde es sicherlich. 

Wenn der Beobachter den Menschen als falsch identifiziert oder falsch macht, würde dies bedeuten, dass der Beobachter in Wirklichkeit derjenige ist, der falsch liegt, und nicht derjenige, der als falsch gebrandmarkt wird. Der Mensch könnte nie etwas falsch machen, denn er würde immer alles richtig machen. Es gibt keinen solchen Menschen. Nur ein Mensch, der immer das tut, was „richtig" ist, hat die Autorität, den anderen als richtig oder falsch zu brandmarken. Das würde einen solchen Mann auch falsch machen, denn es ist falsch zu behaupten, dass der andere falsch sei. Kein Mensch könnte also die Autorität haben, einen Menschen als richtig oder falsch zu brandmarken.

Der Mensch identifiziert den anderen lediglich als richtig oder falsch. Wie kann eine solche Beobachtung gültig sein, wenn kein Mensch jemals etwas richtig oder falsch gemacht hat oder machen konnte? Er könnte auch nicht die Autorität haben, einen anderen als richtig oder falsch zu identifizieren. Das ist die Macht der Illusion, die den Menschen davon überzeugt, dass er entweder Recht oder Unrecht getan hat, wenn er überhaupt noch nie etwas getan hat. Der Mensch war nie, ist nie und wird nie der Handelnde sein. Dies ist die Bedeutung der beiden Worte „Neti Neti", die mit „Nicht dies, nicht das" übersetzt werden können, was bedeutet, dass der Mensch weder richtig noch falsch sein kann.  

Das Leben des Menschen ist jedoch voll von Richtig und Falsch. Es ist zum Beispiel falsch, morgens spät aufzuwachen. Das ist der Glaube, den der moderne Mensch in seinem Kopf hat. Aber ist er sicher, dass er jeden Morgen aufwacht? Ja, es ist offensichtlich, dass er im Wachzustand aufwacht, aber tut der Mensch jeden Tag etwas, um in den Wachzustand zu gelangen? Er wacht einfach auf, und zwar genau dann, wenn er dazu bestimmt ist, was wohl das Richtige zu sein scheint. 

Der Mensch mag einwenden, dass er wegen des Weckers aufwacht. Dann wäre der Wecker richtig und nicht der Mensch. Wenn er aufwachen und den Wecker starten könnte, um ihn zu wecken, dann könnte er behaupten, dass er derjenige ist, der jeden Tag aufwacht. Wo wäre in diesem Fall die Notwendigkeit eines Weckers? Er könnte jeden Moment aufwachen, wenn er es wünschte. Da es nicht der Mensch ist, der jeden Morgen aufwacht, um richtig zu sein, wie könnte derjenige, der dies nicht tut, falsch liegen? Er wacht jeden Morgen genau in dem Moment auf, in dem es ihm bestimmt ist, aufzuwachen. Es liegt nicht in der Hand des Menschen, aufzuwachen, und auch sonst nichts im Leben.

Betrachte nun das frühe Aufwachen als das richtige und das späte Aufwachen als das falsche Vorgehen. Das ist der Glaube des Menschen, aber wie kann das im Leben überhaupt möglich sein? Im Leben gibt es nur einen Moment, und dieser Moment ist ewig. Es gibt nicht viele Momente in einem Moment, sondern nur einen. Wenn es viele Momente in einem Moment gäbe, dann wäre es für den Menschen möglich, rechtzeitig oder zu spät aufzuwachen, in diesem Fall würde entweder richtig oder falsch existieren. Wenn diese Existenz real wäre, würde das Richtige oder Falsche niemals verschwinden, sondern ewig bestehen. Alle Menschen würden ewig richtig oder falsch sein. Es würde bedeuten, dass das Leben entweder absolut richtig oder absolut falsch wäre. In diesem Fall könnte der Mensch nie wissen, ob er richtig oder falsch ist, denn er braucht die Dualität, um das zu erkennen, und wenn die Existenz real wäre, würde die Dualität nie existieren. 

Das bedeutet, dass Richtig und Falsch im selben Moment nebeneinander existieren, und ihre Existenz ist vorübergehend und nicht real, denn sie verschwinden alle. Im einzelnen Moment müssen einige länger schlafen, damit andere wach sein können, um die Dualität von richtig und falsch zu manifestieren. Um wach sein zu können, muss jemand schlafen. Sei demjenigen dankbar, der länger schläft, denn er oder sie hat dir die Gelegenheit gegeben, das Leben und seine wunderbare Manifestation von Licht und Ton zu bewundern. Könnte der Mensch dem Leben immer dann dankbar sein, wenn er einen Menschen dafür verurteilt, länger zu schlafen, und dadurch dem Beobachter die Gelegenheit gibt, das Leben zu bewundern?

Es ist nicht der Mensch, der den Morgen erschafft; er findet sich lediglich am Morgen wieder. Das Leben ist dem Verstand immer voraus; der Verstand hinkt dem Leben hinterher, denn das Leben ist Licht und der Verstand ist Ton. Das Leben ist Licht, und es reflektiert eine optische Illusion von Farbe, Form und Handlungen, während der Verstand Ton ist, der eine auditive Illusion von Worten mit Bedeutungen widerspiegelt, die auf Handlungen und Gefühle von richtig oder falsch hindeuten.  

Es gibt nichts Falsches im Leben im Gegensatz zu richtig und nichts Richtiges im Leben im Gegensatz zu falsch. Du bist dazu bestimmt, dort zu sein, wo du sein sollst. Du bist nirgendwo, wo du nicht sein solltest. Wenn der Verstand denkt, dass du nicht an einem bestimmten Ort sein sollst, dann verstehe, dass du dort bist, wo das Leben dich bestimmt hat zu sein. Der Verstand kann die einzelne Bewegung des Lebens nicht verstehen, weil er nicht dazu bestimmt ist. Er kennt illusionäre Bezeichnungen und erinnert sich an sie, um dem Menschen vorzugaukeln, dass sie real wären. Würde man den illusionären Verstand verstehen, hätte er die Realität offenbart. 

Richtige Gedanken geschehen dem Menschen, und damit diese als richtig erkannt werden, müssen  im selben Augenblick anderswo falsche Gedanken bei einem Menschen geschehen. Richtige gesprochene Worte geschehen dem Menschen, und damit diese als richtig erkannt werden können, müssen im selben Augenblick anderswo falsche Worte bei einem Menschen geschehen. Richtige Taten geschehen dem Menschen, und damit diese als richtig erkannt werden können, müssen  im selben Augenblick anderswo falsche Taten bei einem Menschen geschehen. Gedanken, Worte und Taten sind illusionär und nicht real. 

Gedanken, Worte und Taten täuschen dem Menschen vor, dass sie real seien, weil er glaubt, dass es viele Momente in einem Moment gibt und dass deshalb Richtig und Falsch tatsächlich geschehen. Es gibt nur einen einzigen Moment im Leben, und deshalb können richtige und falsche Gedanken, Worte oder Taten unmöglich geschehen. Nur ein einziges Gefühl kann in irgendeinem Moment auftreten, und wenn es das täte, wäre der Mensch nicht in der Lage, dieses Gefühl zu erkennen. Dualität ist notwendig für das Erkennen. Deshalb wären Gefühle von richtig und falsch im selben Moment nötig, damit das Erkennen geschehen kann, und ihre Gegenwart könnte nur dann geschehen, wenn sie illusionär und nicht real wären. Wenn Richtig oder Falsch real wären, könnte in jedem Moment nur eines der Gefühle auftreten, und wenn es das täte, wäre ihre Wahrnehmung niemals möglich; das Leben könnte niemals existieren.  

Wenn Gedanken, Worte oder Taten geschehen, die als richtig erscheinen, glaubt der Mensch, dass das Falsche nicht im selben Moment geschieht. Wenn er verstehen würde, dass auch das Falsche im gleichen Moment wie das Richtige geschieht, würde er verstehen, dass das Richtige so falsch ist wie das Falsche und das Falsche so richtig wie das Richtige. Dualität ist in einer illusionären Welt illusionär und niemals real. 

Verstehe, dass Hingabe dem Menschen geschieht, und damit Hingabe als richtig anerkannt wird, muss Untreue bei einem Mann oder einer Frau im gleichen Moment anderswo geschehen und umgekehrt. Lob geschieht dem Menschen, und damit Lob als richtig erkannt wird, muss die Verurteilung einem Mann oder einer Frau im gleichen Moment an anderer Stelle geschehen und umgekehrt. Liebe geschieht dem Menschen, und damit die Liebe als richtig erkannt wird, muss dem einen oder anderen Mann oder der einen oder anderen Frau im gleichen Moment an anderer Stelle Hass widerfahren und umgekehrt. Jedes Gefühl ist genau dasselbe wie sein Gegenteil, und der Unterschied ist relativ, aber nicht absolut. Hingabe, Lob und Liebe sind ewig. 

Sie werden ewig in dem Moment, in dem der Mensch erkennt, dass ihr Gegenteil genau dasselbe ist wie sie, und der Unterschied nur vom Grad her besteht. Der Unterschied im Grad ist das, was den Verstand dazu verleitet, zu denken, dass Gefühle von richtig und falsch real seien. Deshalb sind die Hingabe, das Lob und die Liebe, die verschwinden, illusionär und niemals real. Sie sind nicht verschwunden, sondern bleiben gleich, nur in geringerem Maße als zuvor. Wenn der Mensch den anderen für falsch hält, bedeutet das, dass er das „Richtige" nicht erkennen kann, was du trotzdem bist, aber nicht in dem Maße, wie er es tat, als er dich für richtig hielt.

Es gibt weder einen richtigen noch einen falschen Weg, die Dinge zu tun. Der richtige Weg ist die Art und Weise, wie das Leben fließt, und der falsche Weg ist auch die Art und Weise, wie das Leben fließen sollte, damit das Richtige, das vom Menschen als richtig erkannt werden kann, geschehen kann. Das Falsche ist auch das Richtige, das der Mensch nicht als richtig anerkennt. Sowohl Richtig als auch Falsch sind zusammen und harmonisch, während sie im Verstand getrennt erscheinen, damit das Drama ewig als disharmonisch weitergehen kann.  

Harmonie bedeutet, dass Richtig und Falsch in jedem Moment zusammen sind und nicht voneinander getrennt werden können. Das Leben ist harmonisch, und so sind auch das Richtige und das Falsche im Verstand harmonisch, alles illusionär, aber niemals real. Alltägliche oder häufige Streitigkeiten zwischen Mann und Frau, die darauf basieren, dass sie richtig und falsch sind, können, obwohl sie gültig und überzeugend sind, im Lebensschema einfach nicht real sein. Sie geschehen, damit der Mensch die illusionäre Natur von richtig und falsch verstehen kann. In ähnlicher Weise können alle Argumente oder Schlussfolgerungen, die als richtig oder falsch beurteilt werden, obwohl sie gültig und überzeugend sind, im Lebensschema einfach nicht real sein, weil das Leben zeitlos und gedankenfrei ist. Sie sind im Schema des Verstandes gültig, und der Verstand ist nicht im Leben und kann nicht im Leben sein, weil das Leben zeitlos und gedankenfrei ist. Sie geschehen nur im Verstand, damit der Mensch die illusionäre Natur von „richtig" und „falsch" verstehen kann. 

Auch Religion kann nie nur richtig und niemals falsch sein. Wenn Religion nur richtig wäre, würde es sie gar nicht geben. Um als Religion zu existieren, muss sie dual sein und ist sowohl richtig als auch falsch. Religion kann als Dualität nur im Verstand sowohl richtig als auch falsch sein und nicht im Leben. Auch die Spiritualität kann niemals nur richtig und niemals falsch sein. Wenn sie nur richtig wäre, würde Spiritualität überhaupt nicht existieren. Damit Spiritualität existieren kann, muss sie dual sein und ist sowohl richtig als auch falsch. Spiritualität kann als Dualität nur im Verstand sowohl richtig als auch falsch sein und nicht im Leben. Das Leben ist frei von Religion und Spiritualität, da das Leben zeitlos und gedankenfrei ist. Das ist es, was das Leben zu Freiheit und Erleuchtung macht.

Autor: V.S. Shankar
© Copyright: V.S. Shankar, 2009

Anmerkung des Herausgebers:
Religion und Moral sind wahrscheinlich die beiden wichtigsten Themen im Leben der Menschen. Sie verbinden jene Gemeinschaften, deren Werte miteinander geteilt werden, seien sie nun global oder lokal. Sie werden von denjenigen Gemeinschaften bekämpft, die diese Werte oder die Interpretation dieser Werte nicht teilen. Gegensätzliche Glaubenssysteme haben häufig zu Gewalt oder sogar zu Krieg geführt. In seiner Weisheit präsentiert Dr. Shankar in diesem Artikel einen grundlegenden und klaren Einblick in diese beiden Hauptprobleme. Es ist eine bemerkenswerte Abhandlung, die mit tiefem und klarem Verständnis das Wesen dieser Fragen in Bezug auf die Frage, ob sie als richtig oder falsch angesehen werden, darlegt. Es ist ein Verständnis, das in jeder menschlichen Gemeinschaft geteilt werden sollte, um die in Schwierigkeiten geratene Menschheit von ständiger Disharmonie und Zwietracht zu befreien, wenn es so bestimmt ist. Im Kontext menschlicher Konflikte im Laufe der Jahrhunderte ist dies eine äußerst wichtige Botschaft des Verständnisses.
Julian Capper. Großbritannien. 

Anmerkung des deutschen Übersetzers: 
Was richtig und was falsch ist, wird jedem Kind von frühester Kindheit ständig auf unterschiedliche Weise gesagt: Tu dies nicht! Lass das! So ist es richtig! Und auch in der Schule, ja oft schon im Kindergarten, werden die Äußerungen und Handlungen der Kinder nach richtig und falsch bewertet. So will es das Leben, das den menschlichen Verstand dadurch konditioniert. Auf dieselbe Weise geschieht dem Menschen irgendwann, wenn es das Leben so will, das heißt, wenn es spontan geschieht, dass er oder sie genug hat davon, richtig und falsch als Maß aller Dinge zu betrachten. Eine tiefere Einsicht offenbart sich dann und Freiheit setzt schließlich ein. Dr. Shankars ausführlicher Artikel kann diesen Erwachensprozess begleiten. So voller wesentlicher Details liefert dieser Text ein beachtliches Gegengewicht zur alltäglichen Konditionierung, die eine erdrückende Last darstellen kann, wenn sie nicht Schritt für Schritt durchschaut wird. Es gibt keine Abkürzung zur Erleuchtung! Jeder Winkel des Verstandes muss als illusionär verstanden werden und der Schlüssel dazu ist das weise Verständnis von richtig und falsch. 
Marcus Stegmaier, Deutschland. 

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