Dr. Vijai S Shankar MD.PhD.

India Herald

Houston, USA

25.4.2008

 

 

Der Verstand ist der Architekt des Menschen. Der Verstand erschafft den Menschen. Der Mensch wird an ihm gemessen. Ein intelligenter Verstand wird bewundert; er erfüllt den Menschen mit Stolz und macht ihn zum Mittelpunkt der Gesellschaft. Ein mächtiger Verstand führt zu Macht, Stolz und Ansehen. Die Macht, die ein intelligenter Verstand in Familien, Gesellschaft und in der Nation hat, wird für notwendig gehalten, sodass das Leben funktioniert, fortbesteht, und sich auf geordnete Weise weiterentwickelt. Ein verfeinertes Leben ist eine Widerspiegelung eines intelligenten Verstandes, glaubt jedenfalls der Mensch.

 

Aber ist der mächtige und intelligente Verstand frei von Stress, Angst, Wut, Hass, Eifersucht, Gier, Sorgen, der Sucht nach Aufmerksamkeit und anderen Gefühlen, die der Mensch sich niemals wünscht und denen er nicht ins Gesicht sehen möchte? Ist der mächtige und intelligente Verstand glücklich, freudvoll, ekstatisch, liebevoll, neben anderen Gefühlen, nach denen der Mensch sich sehnt? Wäre der Mensch wirklich mächtig und intelligent, würde er sich dann die ersteren Gefühle nicht vom Leib halten und die letzteren festhalten, sodass sie in jedem Moment vorherrschen? Wenn er das nicht kann, wie viel mehr Intelligenz würde benötigt, um das zu können? Hat der Mensch diese Intelligenz?

 

Nobelpreisträger, große Philosophen, Wissenschaftler, Autoren, Musiker, Tänzer usw. gibt es in jeder Generation und sie sind überzeugt, dass es den Verstand braucht, aber ist dieser Verstand frei von Unerwünschtem? Dennoch ist der Mensch stolz auf seinen Verstand. Welchen Wert kann allerdings ein Verstand haben, der niemals in der Lage ist, Disharmonie fernzuhalten?

 

Der Verstand, so scheint es, ist unverzichtbar. Es kommt dem Menschen so vor, als bräuchte man ihn für jeden Fußgang im Leben. Es ist undenkbar, dass das Leben ohne ihn weitergehen würde, aber welchen Beweis hat der Mensch, dass das Leben weitergeht wegen des Verstandes? Kann sein Beweis einer Untersuchung standhalten? Was ist der Verstand? Was ist seine Beziehung zum Körper und zum Leben?

 

Das Leben ist ein Transformationsprozess von Energie. Dieser Transformationsprozess drückt sich in Verfeinerung aus. Da das Leben Licht ist, muss diese Verfeinerung zunächst einmal illusionär sein, eine optische und eine auditive Illusion, sozusagen eine Reflexion aus Licht und Ton. Dass das Leben eine Illusion sei, ist die Hauptaussage der Erleuchteten. Das bedeutet und kann nur bedeuten, dass der Verstand im Verfeinerungsprozess erschien, damit dieser Prozess, wie illusorisch auch immer, erkannt werden kann. Es muss verstanden werden, dass das Leben schon existierte und geschah, bevor der Verstand auftauchte.

 

Wenn der Verstand gebraucht würde, damit das Leben geschehen kann, wäre er auch schon vorher gebraucht worden. Aber in der Vorzeit gab es keinen Verstand, und so hätte das Leben damals also nicht geschehen können, obwohl das offensichtlich der Fall war. Die Anwesenheit des Lebens jetzt ist der Beweis, dass es ohne den Verstand geschehen ist und weiterhin geschehen wird. Wie kann es also sein, dass der Verstand heute gebraucht wird, um das Leben geschehen zu lassen? Kann sich der Verfeinerungsprozess nicht selbst am Leben erhalten? Das sollte möglich sein, denn es war das Leben, das den Verstand hervorgebracht hat, von dem der Mensch glaubt, oder besser: glauben gemacht wurde, dass er benötigt würde, um das Leben zu führen. Kann der Verstand, der vom Leben ins Leben gerufen wurde, das Leben geschehen machen? Kann ein Kind zurück in den Bauch der Mutter?

 

Als Teil des Verfeinerungsprozesses, nahm der Mensch eine aufrechte Haltung ein. Er entwickelte sich von einem vierbeinigen Tier zu einem zweibeinigen Tier. Seine ersten Schritte waren unbeholfen und haben sich verfeinert zu der gekünstelten Art des heutigen Gehstils. Er konnte noch nicht einmal wissen, dass er am Leben war, vor der Ankunft des funktionierenden Verstandes.

 

Die Bewegung des Körpers ist eine optische Illusion, denn der Körper besteht aus Licht. Worte waren im primitiven Menschen in einem schlafenden Zustand vorhanden, und wurden aktiviert zu einem bestimmten Augenblick, der nicht mit Sicherheit bestimmt werden kann, so wie bis zum heutigen Tag nichts mit Genauigkeit bestimmt werden kann. Wenn sich Licht bewegt, erzeugt es Töne, und diese Töne erschienen später als Worte mit Bedeutung. Das war die Geburt des Verstandes, die sich im Menschen ereignete.

 

Zeit erschien mit dem Verstand des Menschen in Form eines Gedankens, dem Grundstein des Verstandes. So begann der Mensch zu bemerken, wie sich der Tag veränderte. Als er Tag und Nacht bemerkte, begann sein Vokabular eine Form anzunehmen. Wort für Wort vermehrte sich sein Vokabular bis es seine heutige verfeinerte Form erreicht hatte. Er wurde sich der Phasen bewusst, in denen Worte abwesend waren; wenngleich er nicht wissen konnte, dass das Leben in diesen Phasen weiterging. Das Leben ging sicherlich weiter, ungeachtet dessen, ob es ihm bewusst war oder nicht.

 

Er war sich zunächst nur des Tages und der Nacht bewusst, in Form von Gedanken, aber nicht der Körperbewegungen, denn das Leben hatte noch keine Gedanken seiner Körperbewegungen gebildet. Langsam aber sicher, als der schwankende Gang sich zu einer höheren Form entwickelte, geschah dasselbe mit dem Verstand. Worte begannen sich im Verstand zu bilden, jeden Tag ein paar, und das musste so sein, denn der Körper bewegte sich. Das Leben des Menschen bestand aus einem Tag mit ein paar Worten, die jeweils eine einzige Bedeutung hatten. Als sich weitere Worte bildeten, gab es auch Sätze und die Worte begannen mehrere Bedeutungen zu haben. Der primitive Tag war gefüllt mit der nötigen Zahl Körperbewegungen, aber der Verstand kannte sie niemals alle und konnte es auch nicht. Es war notwendig, Informationen aller Körperbewegungen zu speichern und daher beschleunigte sich die Wortentwicklung. Der Verstand, der zwar eine Ansammlung von Worten ist, erkennt nur ein Wort in jedem Augenblick, und das ist so seit seinem Anfang bis zum heutigen, verfeinerten Zustand. Alles was der Mensch also weiß über seine Lebendigkeit war schon immer lediglich ein Wort und das wird auch weiterhin so bleiben.

 

Die Beschreibung der Körperbewegungen war jedoch nur eine Behauptung und keine exakte Darstellung der Bewegung. Diese Behauptung erschien als Handlung im Verstand. Das bedeutet, dass der Verstand nicht den Körper bewegt. Stattdessen erzeugt der sich bewegende Körper Töne, die dem Verstand als Worte erscheinen, die eine Handlung vortäuschen. Eine perfekte optische Illusion war erzeugt worden. Verstehe daher, dass weder der Mensch spricht, noch der Verstand. Es ist das Leben, das Töne hervorbringt, die als Sprache erscheinen.

 

Die Sprache des Menschen war zu Beginn ein Stottern von Worten und – als sich seine Bewegungen verfeinerten – verfeinerte sich auch seine Sprache als Folge dieser Bewegung. Es ist also nicht der Verstand, der den Körper kontrolliert, wie allgemein angenommen wird, sondern es ist der Körper, dessen Bewegung Sprache erzeugt. Der Verstand spricht nicht – es ist der Körper, der den Verstand sprechen lässt. Diese Verfeinerung wurde gebraucht, damit das Drama des Lebens aufgeführt werden konnte und das wird auch weiterhin so sein. Der Mensch glaubte schließlich, dass er der Handelnde sei! Und der heutige Mensch weiß, dass sich wiederholte Lügen zur Wahrheit entwickeln. Auf dieselbe Weise wurde der Glaube zur Wahrheit, dass der Mensch der Handelnde sei.

 

Der Mensch glaubt, dass der Verstand das Leben geschehen macht. Wenn der Verstand das Leben geschehen machen würde, würde der Mensch tun, was ihm beliebt. Wenn das Leben Gedanken im Verstand geschehen macht, ist es dumm, das Leben geschehen machen zu wollen, denn diese Gedanken müssen ebenfalls geschehen! Das ist unmöglich, denn das würde bedeuten, dass der Verstand das Leben geschehen macht, und wenn das so wäre, hätte der Verstand keine Veranlassung, Forderungen an das Leben zu stellen, was geschehen soll. Der Verstand kann das Leben nicht geschehen machen aus dem einfachen Grund, weil das Leben schneller ist als der Verstand. Das Leben ist Licht und der Verstand ist Ton, der sich in Worte mit Bedeutungen transformiert hat. Das ist die Verfeinerung des Lebens.

 

Der Verstand ist ein wunderbares Geschenk des Lebens. Er ist das Tor zur wahren Identität des Menschen, wenn er richtig verstanden wird. Der Verstand ist nicht in der Gegenwart, wo der Mensch lebendig ist; daher ist es unmöglich, dass er berichten kann, was im Leben geschieht, oder dass er das Leben geschehen machen könnte. Da Handlungen im Leben nicht anwesend sind, können sie niemals in der Vergangenheit als Realität existieren. Sie erscheinen in der Vergangenheit als Gedanken und ein Gedanke einer Handlung ist nur die Behauptung einer einzigen Bewegung aber nicht die genaue Beschreibung einer Handlung. Dass der Verstand die Wahrheit sagen könne, ist Unwissenheit und nicht Intelligenz; dass der Verstand Wahrheit praktizieren könne ist Unwissenheit und nicht Intelligenz. Es ist eine große Täuschung, dass der Verstand die Fähigkeit habe, zu beschreiben, was im Leben geschieht, das Leben zu genießen, zu lieben, zu vermeiden was unnötig ist, zu tun was nötig ist, abzulehnen, was man nicht brauchen kann, und – als Krönung des Ganzen – Gefühle zu fühlen wie Depression, Traurigkeit, Wut, Eifersucht und Hass als Ergebnis dessen, was im Leben geschieht. Der Verstand ist wie ein Computer; er ist das beste Modell, das es gibt, schließlich ist er ja vom Leben geschaffen worden. Er wiederholt, was ihm eingegeben wurde. Und es ist auch der Verstand, der zum Allmächtigen betet und über Wege nachdenkt, die zum Göttlichen führen, und entsprechende spirituelle Techniken ausführt. Wie wahr oder realistisch das sein kann, muss verstanden werden. Das Leben ist sehr intelligent, denn es verbirgt Unwissenheit in der Intelligenz.

 

Altern ist alles, was im Leben geschieht, und der Verstand bemerkt diesen Alterungsprozess nicht, weil er im Leben nicht anwesend ist. Der Alterungsprozess ist der Verfeinerungsprozess. Alles wächst zunächst und zerfällt dann später: das ist der Alterungsprozess und der Verstand kontrolliert ihn nicht, denn er altert ebenfalls! Dualität ist die Funktionsweise des Verstandes und Dualität, weil sie relativ ist, kann niemals etwas Absolutes übermitteln. Es ist das Absolute, das sich als Dualität widerspiegelt, was Dualität auch zu einer Einheit macht, die allerdings als Zwei erscheint: das eine getrennt vom anderen, dennoch in der Einheit verbunden. Das Gute und das Böse; das Richtige und das Falsche; der Sünder und der Heilige usw. sind alles Eins, nur eine Angelegenheit von mehr oder weniger, und dennoch erscheinen sie als von einander getrennt. Diese Trennung erzeugt das Drama des Lebens.

 

Wenn wir uns die primitiven Zeiten vorstellen, muss es schockierend gewesen sein für den primitiven Menschen, als er Essensreste des Vortages entdeckte. Es wurde ihm dadurch klar, dass er am Vortag etwas gegessen haben muss, ohne es zu bemerken. Jeder kann sich seinen Schockzustand vorstellen, als er feststellte, dass er am Vortag wohl etwas gegessen haben muss, jedoch ohne etwas davon zu bemerken. Das ist der Beweis, dass das Leben weitergeht, ohne die Hilfe des Verstandes zu benötigen. Dieselbe Verwunderung, wenn nicht eine noch größere, geschieht einem erleuchteten Wesen, das bewundert, wie ihm Essen geschieht, ohne dass er selbst isst.

 

Verfeinerung bedeutet nicht nur Wissenschaft und ihre Entdeckungen. Verfeinerung ist auch Wissenschaft, aber auch die Behauptung, der Mensch sei der Handelnde – in der Wirtschaft, der Wissenschaft, im akademischen Bereich, im Sport, in der Kunst, in der Religion und der Spiritualität und selbst im Krieg. Da ist kein Ende dieser Behauptung in Sicht und das ist auch Teil der Verfeinerung. Der Mensch mag es zwar behaupten, doch das bedeutet nicht, dass er der Handelnde ist, solange das nicht bewiesen ist, und der Mensch kann es nicht beweisen. Alles was der Mensch kann ist, Behauptungen aufzustellen, aber er kann seine Behauptungen nicht beweisen.

 

Er behauptet sogar, Gott erlangt zu haben und Erleuchtung als Erfahrung zu haben. Wie wahr kann das sein, wenn Gott und Erleuchtung Gedanken im Verstand sind? Er behauptet, er könne anderen die Erleuchtung schenken, wenn sie seinen Anweisungen folgen, während seine Anweisungen nur eine Interpretation einer einzigen Bewegung sind, die ohne Anfang und ohne Ende ist, eine Bewegung von Licht, die spontan, unkontrollierbar und unvorhersagbar geschieht. Die Behauptungen des Menschen bleiben Behauptungen ohne ein Körnchen Wahrheit.

 

Macht, Stolz, Geld und Ansehen geschehen dem Menschen allesamt. Der Verstand bringt sie nicht hervor. Sie sind alle eine auditive Illusion von Tönen. Das Treffen von menschlichen Wesen, ihre Begegnung und jede Handlung des Menschen ist nur eine intelligente Bewegung und in dieser Bewegung ist alles enthalten, was in der Welt erscheint, beispielsweise die Pflanzen- und die Tierwelt ebenso wie Materie. Der Verstand kontrolliert oder diktiert ihre Bewegungen oder ihre Existenz nicht. Wie könnte er also verantwortlich sein für die Bewegungen des Menschen oder gar nur seiner Existenz? Seine Bewegungen und seine Existenz geschehen noch bevor der Verstand an sie denken kann. Das Leben ist Licht und es ist sehr schnell, wohingegen der Verstand Ton ist und daher langsamer. Der Verstand macht das Leben nicht geschehen; es ist das Leben, das den Verstand geschehen macht.

 

Ein Mensch, der behauptet, dass seine Anstrengungen und Bemühungen ihm in der Folge Stolz, Macht, Ansehen oder Erleuchtung gebracht hätten, spricht aus Unwissenheit und nicht mit Intelligenz. Der Eifer zu beraten und anzuleiten, wenn auch gut gemeint, ist eher Unwissenheit als Intelligenz, denn es ist das Leben, das in Bewegung ist und der Verstand bringt es nicht in Bewegung. Der Verstand wird nur benötigt, um Worte wahrzunehmen und nicht das Leben, und Erinnerung ist eine Wörterdatenbank mit einer gesunden Interessensrate, durch die Worte sich weiter vermehren, ganz zur Freude des Menschen.

 

Das Leben ist eine einzige Bewegung aus Licht, die eine optische und auditive Illusion vom Menschen und seinem Verstand widerspiegelt. Das Leben wird sich in jeder Generation verfeinern, und was man in zukünftigen Generationen zu erwarten hat, kann nur eine Spekulation und keine Sicherheit sein, was wiederum ein Teil des Verfeinerungsprozesses ist – illusionär und niemals real. Daher kann es keine reale oder absolute Beziehung geben zwischen dem Verstand und dem Körper: Diese Beziehung ist illusionär, da der Körper selbst ein Gedanke im Verstand ist. Es kann keine reale oder absolute Beziehung zwischen dem Verstand und dem Leben geben. Diese Beziehung ist illusorisch, denn das Leben ist zeitlos und gedankenfrei, während der Verstand Gedanke ist und damit auch Zeit. Das Verstehen der illusionären Natur des Verstandes ist Erleuchtung. Das Verstehen, dass der Mensch weder der Handelnde noch der Sprecher noch der Denker ist, bedeutet Erleuchtung.

 

© Copyright V.S. Shankar 2008

 

 

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