Dr. Vijai S Shankar MD.PhD.
Published on www.academy-advaita.com
Niederlande
16 September 2019 

Vertrauen (2)

„Sicherheit“

 

Die Geschichten von Vertrauensbruch könnten jede Bibliothek füllen. Sie kommen aus dem Glauben, dass der Mensch der Handelnde, Sprechende und Denkende sei, wobei Religion und Spiritualität diesen Glauben seit Urzeiten stärken. 

Was macht der Mensch mit dem Vertrauen? Er erwartet, dass der andere ihm genauso vertraut wie er dem anderen, aber kann man dem anderen vertrauen, wenn man sich selbst nicht vertraut? Das liegt daran, dass jeder Mensch an sich selbst zweifelt. 

Jeder Mensch ist sich nie seiner selbst sicher, und wenn der Mensch sich seiner selbst nicht sicher ist, wie kann der Mensch dann jemand anderem vertrauen? Vertrauen ist ein gewaltiges Phänomen. Es ist ein Quantensprung im Verständnis des Menschen für seinen Verstand und sein Leben. 

Wie oft wird das Vertrauen in einen anderen zu Lebzeiten des Menschen gebrochen? Unzählige Male könnte man hinzufügen, aber ohne Erfolg. Vertrauen wechselt sich ab mit Misstrauen. Der Mensch entschuldigt sich immer wieder und vergibt auch immer wieder: die sprichwörtliche "letzte Chance". 

Es mag so aussehen, als hätte er sich erlöst, ein neues Blatt gewendet, eine neue Seite in seinem Leben aufgeschlagen. Es ist nur Täuschung, es bedeutet nur, dass er nicht auf frischer Tat ertappt wurde, das ist alles. Zu täuschen, egal wie illusionär, geschieht dem edelsten Verstand von allen.

Eine Handlung, an die man denkt, ist so gut wie die Handlung selbst. Niemand kann leugnen, dass er nicht an eine unehrliche Tat gedacht hat. Sie ist in jedem Verstand gegenwärtig, wenn ein ehrenhafter Gedanke vorhanden ist. Wenn ein Mensch behauptet, ehrenhaft zu sein, ist er gleichzeitig auch unehrenhaft. Das kann man einfach nicht leugnen, egal wie stark man es verteidigen mag.

Vertrauen bezieht sich auf Handlungen, Sprechen, Gedanken, Berührung, Geruch und Geschmack. Vertrauen bezieht sich auf alle Aspekte der menschlichen Wahrnehmung der Welt, und darum ist es wichtig. Der Gedanke „Was macht er oder sie?“, „Was wird er oder sie tun?“ ist genug, um den Menschen dazu zu bringen, mit Vertrauen zu spielen. 

Solange der Mensch denkt, dass er und der andere der Handelnde sind, kann er dem anderen oder sich selbst nicht vertrauen. Er mag den anderen sehr wohl täuschen, aber niemand kann ehrlich sagen, dass er vertrauenswürdig ist. Er würde lügen, wenn er das sagen würde.

Der erste zu verstehende Punkt ist also, dass der Mensch nicht vertrauenswürdig sein kann. Das Leben wird ihm genauso passieren, wie es mit jedem anderen geschieht, allerdings illusionär und ohne etwas Reales. Das Drama des Vertrauens ist ein hochkarätiges Drama. Vertrauen wird in allen Bereichen als die beste Tugend hervorgehoben. Es wird dem Menschen von Kindesbeinen an eingetrichtert, „vertrauenswürdig“ zu sein. Es wird ihm immer wieder beigebracht, vertrauenswürdig zu sein.

Der Grund dafür ist der Moment im Leben, der das Handeln, Sprechen und Denken beinhaltet. Der Moment im Leben wird weder von Mann noch von Frau gemacht. Der Moment und das, was der Moment enthält, ist eine Manifestation des Prozesses in der Evolution, und der Prozess der Evolution wird nicht vom Menschen kontrolliert. Die Weisen verstehen, dass das Leben so verlaufen wird, wie es bestimmt ist.

Die Erleuchteten vertrauen jedem Mann und jeder Frau, wie er oder sie in jedem Moment ist, und akzeptieren sie so, wie sie sind, egal was sie tun, sagen oder denken in jedem Moment des Lebens.

Autor: Dr. Vijai S. Shankar
© Copyright V. S. Shankar 2019

Anmerkung des Herausgebers: 
Von jeher hat die Gesellschaft großen Wert auf Vertrauenswürdigkeit und aus gutem Grund gelegt. Ein Mann oder eine Frau, die den Ruf hat, vertrauenswürdig, wenn auch illusionär, zu sein, wird von Freunden und Kollegen respektiert: „Er steht zu seinem Wort“, sagen sie; „Bei ihm ist man in guten Händen“, sagen sie - und das nicht ohne Verdienst. Der Verstand fordert jedoch eine unmögliche Voraussetzung für Vertrauen und zwar Gewissheit. In der Weisheit, wie in diesem Artikel und anderswo offenbart, ist der Mensch nicht der Handelnde. Die Voraussetzung für Vertrauen ist die Gewissheit jedes Augenblicks, dessen Inhalt so ist, wie er ist. Mit der Reife des Verstehens werden sich die Fesseln von Erwartung, Kritik und Enttäuschung auflösen, wenn es geschehen soll. 
Julian Capper, Großbritannien.

Anmerkung des deutschen Übersetzers: 
Soziale Ängste beruhen auf dem Bedürfnis nach Sicherheit. Die Frage ist: „Was denken die anderen über mich und wie kann ich die Situation unter Kontrolle haben, einen guten Eindruck machen, das Wohlwollen in der Gesellschaft erlangen und gut behandelt werden?“ So menschlich dieses Bedürfnis nach Aufnahme in die Gesellschaft, Anerkennung und Akzeptanz durch andere auch sein mag, wird bei näherer Betrachtung dennoch klar, dass es sich dabei um Bedingungen an das Leben handelt. Dr. Shankars Artikel „Vertrauen (2)“ zeigt auf, wie man auch in scheinbar schwierigen sozialen Situationen, die Ruhe bewahren kann: Durch das Verständnis, dass jeder Mensch das denkt, sagt und tut, was ihm vom Leben bestimmt ist. Dieses Verständnis bedeutet nicht, dass man immer mögen muss, was andere über einen denken, sagen oder wie sie sich verhalten, doch es hilft, loszulassen vom Kontrollzwang, der aus jeder unerwünschten Situation ein Problem macht, das es zu lösen gilt. 
Marcus Stegmaier, Deutschland.  

back to articles page