Dr. Vijai S Shankar MD.PhD.
Published on www.academy-advaita.com
Niederlande
6 Marz 2002 

Was ist Liebe? 

Amigo:
Ich schreibe, um die folgenden Fragen zu stellen, und sie sollen der Einfachheit halber getrennt beantwortet werden. 

Fragen:
Was ist Liebe? Wie kommt es, dass wir nicht wissen, was Liebe ist, obwohl wir nach ihr hungern und die Erleuchteten uns sagen, dass Liebe das ist, was wir sind? Ist Liebe ein anderes Wort für Hingabe oder Gnade? Ist unsere Liebe ein guter Wegweiser zur „Verwirklichung"? Hat Bhakti etwas mit der Wahren Liebe, die wir sind, zu tun? Gibt es irgendetwas, das wir „tun“ können, um dorthin zu „gelangen“, obwohl wir mit unserem Verstand verstehen, dass so etwas absolut unmöglich ist?
Amigo:
Was ist Liebe? 

Dr.Vijai S. Shankar: 

Liebe als Frage:
Erstens muss man verstehen, ob „Was ist Liebe" eine Frage sein kann, die man beantworten kann? Liebe kann keine Frage sein. Ist sie nämlich eine Frage, dann sollte eine Antwort da sein. Wenn die Antwort da ist, wo ist sie dann? Diese Frage ist uralt und eine Antwort hätte schon längst gefunden werden müssen! Wenn die Antwort gefunden worden wäre, wäre die Frage verschwunden. Aber die Frage ist immer noch da, was bedeutet, dass die Antwort noch nicht gefunden wurde. Wenn sie noch nicht gefunden wurde, wie könnte man dann sicher sein, dass sie noch gefunden wird. Vielleicht kann der Verstand die Antwort nie finden! Außerdem ist eine einzige Antwort, die alle Verstände zufrieden stellt, nicht möglich, denn jeder Verstand hat seine eigenen Vorstellungen von Liebe. Daher ist eine universelle Antwort eine Illusion. Es gibt individuelle Antworten auf die Frage nach der Liebe und genau aus diesem Grund gibt es Streit über die Liebe, denn jeder Verstand wird der Antwort eines anderen Verstandes widersprechen. Dieser Widerspruch ist normal, denn jeder Verstand lebt zu einem anderen Zeitpunkt. Daher ist „Was ist Liebe" eine illusionäre Frage, auf die es keine Antwort gibt!

Liebe als Konzepte: 
Liebe ist nichts, was man wissen kann! Was auch immer vom Verstand gewusst wird, ist lediglich ein Konzept. Liebe kann kein Konzept sein, denn Konzepte sind in jedem Verstand anders und Liebe ist nicht so begrenzt, dass sie in jedem Verstand anders sein könnte. Liebe ist weder ein Konzept noch eine Meinung. Liebe ist auch nicht etwas, was man durch Worte vermitteln könnte. Worte können nicht vermitteln, was man wirklich sagen will. Wenn der Verstand auf die Frage, was Liebe ist, antwortet, bringt er seine konditionierten Konzepte von Liebe vor, die ihm von außen indoktriniert worden sind. Diese Konzepte sprechen von der Liebe, wie sie sein sollte! „Sollte“ bedeutet Zukunft. Diese Zukunft wird nie kommen und so werden sich die Konzepte der Liebe nie verwirklichen. Das erzeugt Kummer zwischen den Liebenden. Die Konzepte nehmen die Form einer Erwartung, einer Forderung, einer Manipulation an. Jedes Ego versucht nichts weiter als den anderen zu dominieren, weil die Konzepte nicht identische Argumente sind, und so nimmt Wut den Platz der Liebe ein. Liebe wird dann zu einem bloßen Zwischenstadium zwischen zwei Kämpfen. Dieses Zwischenspiel nennt der Verstand Liebe, und selbst das ist keine Liebe. Und zwar, weil die Ruhepause zwischen den Kämpfen, die der Verstand Liebe nennt, in Wirklichkeit eine Ruhepause ist, bevor der nächste Kampf ausbricht, um die Konzepte jedes Verstandes von Liebe zu verteidigen. Alle Vorstellungen und Konzepte von Liebe sind lediglich ein Kuhhandel! Daher können auch Konzepte keine Liebe sein.

EGO und Liebe: 
Es ist das Ego, das die Frage stellt: Was ist Liebe? Erstens ist es weise, sich daran zu erinnern, dass das Ego unecht ist und das macht auch die Frage unecht. Zweitens werden die Antworten, die das Ego sich selbst oder anderen gegenüber gibt, ebenfalls unecht sein. Diese Unechtheit wird vom Ego für die Wahrheit gehalten. Das, was unecht ist, kann nicht im Leben sein. Das ist der Grund, warum es schwierig ist, Liebe im Leben zu finden. Wenn das Ego sagt: „Ich liebe dich", bedeutet das lediglich, dass „ich es brauche, geliebt zu werden". Dies ist Dominanz, eine Art geistige Sklaverei. Aus Abhängigkeit und dem Bedürfnis nach Geborgenheit geht der andere auf die Bedürfnisse und Forderungen des dominanten Ichs ein. Dies hält das dominante Ego für Liebe, was in Wirklichkeit nur Duldung ist, die sich als Liebe ausgibt. Solange das Ego präsent ist, kann Liebe nicht präsent sein. Das liegt daran, dass das Ego immer in der Vergangenheit oder in der Zukunft ist und die Liebe immer im zeitlosen Jetzt ist. Liebe geschieht in dem Moment, in dem sich das Ego im Geliebten aufgelöst hat. Es bleibt nur noch der Andere und das Ego ist abwesend. Dann erblüht die Liebe so sehr, dass sogar der Andere verschwindet und dann sind Zwei abwesend und nur Eins bleibt. Namenlos und formlos. Dieses Sein ist Liebe.

Liebe – eine Illusion: 
Wenn die Welt eine Illusion ist – und das ist sie –, dann sind auch die Gedanken in dieser Illusion enthalten. Versuchen wir zu verstehen, inwiefern die Worte „Ich liebe dich" eine Illusion sind. Wenn das Ego sagt „Ich liebe dich", versucht es, den Anderen in den Glauben zu versetzen, dass es den Anderen liebt. Die ständige Wiederholung der Worte „Ich liebe" erzeugt den Glauben, dass er oder sie den Anderen wirklich liebe. Wenn die Liebe wirklich vorhanden ist, wo ist dann die Notwendigkeit zu sagen „Ich liebe dich"? Es gibt keine Notwendigkeit, „Ich liebe dich" zu sagen oder über Liebe zu diskutieren oder über Liebe zu sprechen. Man kann nur über das sprechen, was abwesend ist. Was gegenwärtig ist, wird sich von selbst zeigen und es besteht keine Notwendigkeit, darüber zu sprechen. Wenn Liebe da ist, ist sie da, präsent, lebendig und pulsierend. Nur weil die Liebe abwesend ist, muss das Ego sagen: „Ich liebe dich“. Diese Abwesenheit von Liebe wird so aufgefasst, als ob die Liebe da wäre. Was tatsächlich vorhanden ist, ist die Anwesenheit von Duldung gegenüber dem Anderen aufgrund von Abhängigkeit und dem Bedürfnis nach Geborgenheit. Das ist die Illusion – zu denken, dass die Liebe anwesend sei, wenn man nur sagt: „Ich liebe dich". Die Worte „Ich liebe dich" erschaffen einen Glauben, dass die Liebe anwesend sei. Dieser Glaube lässt die Angst entstehen, dass die Liebe verschwinden könnte. Daher wird nach einer Wiederholung verlangt und das Ego fühlt sich getröstet, dass die Liebe gegenwärtig sei. Der Verstand hat die Angewohnheit, den anderen in einen Gebrauchsgegenstand zu verwandeln. Das liegt daran, dass der Verstand durch seine Sinne das erkennt, was verdinglicht werden kann. Dieser Mechanismus führt dazu, dass der Verstand die Liebe in ein Ding verwandelt, das benutzt werden kann. Daher verwandelt der Ehemann im Leben durch den Verstand die Ehefrau in ein Objekt, das benutzt werden soll, und die Ehefrau verwandelt den Ehemann ebenfalls durch den Verstand in ein Objekt, das besessen werden soll. Das ist keine Liebe. Der Verstand sagt auch, was Liebe sein sollte! Sollen bedeutet in der Zukunft sein. Sollen verweist immer auf die Zukunft. Die Zukunft ist nicht existent und so wird auch die Liebe in dem Moment nicht existent sein, in dem du sagst, wie sie sein sollte!
Deine Frage „Was ist Liebe?" kann also nicht beantwortet werden. Wenn jemand antwortet, was Liebe sei, dann erinnere dich gut daran, dass es nicht Liebe sein kann! Liebe ist dein eigenes Sein und kein Zustand des Verstandes. Es wäre also angemessen zu fragen: „Was ist Liebe nicht?" 

Amigo: Wie kommt es, dass wir nicht wissen, was Liebe ist, obwohl wir nach ihr hungern und die Erleuchteten uns sagen, dass Liebe das ist, was wir sind?

Dr.Vijai S. Shankar: 

Liebe als das Bekannte: 
Liebe kann niemals das Bekannte sein, denn Liebe ist das Unbekannte. Die Liebe ist wie das Leben, unbekannt, geheimnisvoll und unlogisch. Liebe kann nicht innerhalb der Struktur des Verstandes von Ideen und Regeln enthalten sein. Die Liebe ist wie das Atmen, grundlos und doch da! Wir hungern nach Liebe, denn Liebe ist unser Sein. Solange wir nicht wissen, wer wir sind, wird der Durst nach Liebe da sein. Der Durst ist nur die Sehnsucht, uns selbst zu begegnen! Liebe ist ohne Bedeutung. Die Liebe ist, wie das Leben, geheimnisvoll, wo es weder Logik noch Vernunft gibt. Die Liebe ist wie ein Atemzug. Man kann nicht sagen, ich atme nur zwei Stunden am Tag und den Rest des Tages nicht. Ebenso ist die Liebe wie der Atem die ganze Zeit präsent. Liebe ist das Leben, ganz gleich, was der Verstand über das Leben sagt; Liebe hat nichts damit zu tun. Du liebst einfach alles und jeden, egal was. Du bist Liebe und nicht irgendein Konzept oder eine Meinung. 

Amigo: Ist Liebe ein anderes Wort für Hingabe oder Gnade?

Dr.Vijai S. Shankar: 

Hingabe:
Hingabe geschieht in dem Moment, in dem wir erkennen, dass das Ego nicht der Handelnde ist. Hingabe geschieht in dem Moment, in dem wir erkennen, dass nicht wir das Leben führen, sondern das Leben für uns geführt wird. Hingabe geschieht in dem Moment, in dem wir erkennen, dass nicht wir das Leben geschehen lassen, sondern das Leben uns geschieht.

Gnade: 
Gnade ist die eigentliche Essenz des Lebens. Gnade ist ein anderer Name für Liebe. Es ist Gnade, die uns am Leben erhält. Sie macht Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Berühren möglich. Es ist Gnade, die dem Verstand Empfindung verleiht. 

Amigo: Ist unsere Liebe ein guter Wegweiser  zur „Verwirklichung"?

Dr.Vijai S. Shankar: 

Liebe als Wegweiser zur Verwirklichung: 
Erstens sollten alle Glaubenssätze aus dem Verstand verschwinden. Diese Überzeugungen beruhen auf Zweifeln. Wenn man dazu kommt, am Verstand zu zweifeln, dann wird die Richtung des Zweifels in Richtung des Zentrums gehen. Diese Richtung wird den Glauben an sich Selbst hervorbringen. Der Glaube wiederum wird sich als Hingabe ausdrücken, die Liebe zum Dasein ist. Diese universelle Liebe zu allem, was in der Existenz ist, ist an sich schon ein Wegweiser zu der Verwirklichung, dass Bewusstsein die erste Illusion von Gewahrsein ist!

Amigo: Hat Bhakti etwas mit der Wahren Liebe, die wir sind, zu tun?

Dr.Vijai S. Shankar:

Bhakti: 
Solange das Ego hinter der Bhakti steht, ist diese Bhakti nur eine weitere Handlung des Egos. Wenn Bhakti zeitorientiert ist, dann ist diese Bhakti im Verstand, denn Zeit ist im Verstand. Bhakti ist zeitlose, nicht erinnerte Erinnerung, dass es nichts gibt außer Gewahrsein! Diese nicht-erinnerte Erinnerung an Gott ist Liebe. 

Amigo: Gibt es irgendetwas, was wir „tun“ können, um dorthin zu „gelangen“, obwohl wir mit unserem Verstand verstehen, dass so etwas absolut unmöglich ist?

Dr.Vijai S. Shankar: 

Tun: 
Die Sache ist in dem Moment vorbei, in dem du erkennst, dass „tun" und „GOTT zu bekommen" unmöglich ist. Da dieses Verständnis nicht vollkommen ist, bleibt die Frage weiter bestehen. Das liegt daran, dass das Ego denkt, dass es der Handelnde sei! Das Ego ist nur ein Behauptender und kein Handelnder! 

Autor: Dr. Vijai S. Shankar
2.6.2021 © Copyright V.S. Shankar 2021

Anmerkung des Herausgebers: 
Auf der Suche der Menschen nach der Existenz der Liebe im täglichen Leben können sie, während er und sie auf ihrem Weg voranschreiten, zufällig einem weisen Menschen begegnen, wenn es ihnen bestimmt ist. So schenkt Dr. Shankar hier in Weisheit ein tiefes Verständnis des Lebens für drängende Fragen und Ängste. Das geduldige Aufheben und allmähliche Auflösen von Bedingungen, die das Ego lange Zeit in den Verstand des Menschen gesetzt hat, kann offenbaren, dass die Liebe, die man sucht, die eigentliche Essenz des Lebens selbst ist. 
Julian Capper, Großbritannien.

Anmerkung des deutschen Übersetzers: 
Die Frage „Was ist Liebe?“ bewegt den Menschen seit er sich im Laufe der Evolution bewusst geworden ist, dass er in andauerndem Konflikt mit seiner Umgebung, seinen Mitmenschen und dem Leben selbst lebt. Der moderne Mensch neigt zu starkem Leiden unter den endlosen Verirrungen des konditionierten Verstandes, der innere Konflikte erschafft, die sich im Außen als Streit und Krieg manifestieren. Der primitive Mensch, der keinen funktionierenden Verstand hatte, lebte im Paradies der Harmonie mit dem Leben, dessen Bestandteil er war. Noch heute ist der Mensch Bestandteil des Lebens und nicht von ihm getrennt, doch der Verstand erzeugt, ob man es will oder nicht, Konflikte durch duales Denken von richtig und falsch, angenehm und unangenehm, Liebe und Hass, wenngleich vollkommen illusionär. Diese Dualität verhindert die Offensichtlichkeit der allumfassenden Liebe, die das Leben selbst ist, wie es in jedem Moment unweigerlich bestimmt ist zu sein. Mit der weisesten Einsicht führt Dr. Shankar hier den interessierten Fragesteller Schritt für Schritt zurück ins Paradies jenseits des Verstandes. Doch anders als der primitive Mensch ohne Gedanken, der sich seiner Einheit mit der Liebe und dem Leben nicht bewusst war, hat der frühere und heutige Mensch mit Gedanken die Chance auf ein Leben in Liebe voller Bewusstheit, was man Erleuchtung nennt. Der vorliegende Dialog ist essenziell für jedes menschliche Wesen!
Marcus Stegmaier, Deutschland. 

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