Marcus Stegmaier 

5 September 2018. 

Jugendalter 

„Die Bedeutung eines Wortes bezieht sich nur auf den Verstand und nicht auf das Leben.“

Dr. Vijai S. Shankar

 

Das Wort „Jugendalter“ ist ein rotes Tuch für so manche Eltern. Allein bei der Nennung des Wortes „Jugendalter“ kommt es zu emotionalen und rationalen Diskussionen am Elternstammtisch, bei Familienfesten und in sozialen Netzwerken. Man ärgert sich über das unberechenbare und unerwünschte Verhalten der Jugendlichen und behauptet, früher hätte es das nicht gegeben. 

Diagnosen wie „pubertäres Verhalten“ in oder außerhalb des Jugendalters oder „trotzige Widerspenstigkeit“ in der vermeintlichen Trotzphase von Kleinkindern verhindern eine empathische Verbindung und führen direkt in einen Machtkampf. Die Erwachsenen sollten sich selbst fragen, ob nicht vielmehr sie selbst in einer Phase des Kampfes und der Nichtakzeptanz gefangen sind. Was man über andere sagt, ist man selbst, denn die Bedeutung eines Wortes bezieht sich nur auf den eigenen Verstand und nicht auf das Leben. Diese Weisheit gilt besonders, wenn Kindern „Trotz“ und „Pubertieren“ vorgeworfen wird.  

Eltern, die ihre eigenen Kinder nicht in jeder Situation liebevoll und geduldig begleiten können, befinden sich sozusagen selbst noch in einer pubertären Phase und wurden vom Leben noch nicht zu einem reifen Erwachsenen entwickelt. Daran ist nichts falsch, denn nicht der Mensch steuert seine körperliche und geistige Entwicklung, sondern das Leben. Ebensowenig ist das Verhalten der Jugendlichen falsch. Dies gilt es zu verstehen. 

Ständige Veränderung ist das Wesen des Lebens, das nicht aufzuhalten ist. Daher ist das Leben ein illusionäres Fließen aus Licht und Ton, wie die Erleuchteten erklären. Was bedeutet dies für die Identität des Menschen? Von „schwanger“ über „Geburt eines Babys“, „Kleinkind“, „Schulkind“ bis zu einem „Jugendlichen“ und schließlich einem „Erwachsenen“ – das sind die Identitäten des Menschen. Die Bezeichnung ein und desselben Menschen wechselt ständig. Das zeigt, wie illusionär die Worte sind, die unser Ich bezeichnen. Der eigene Name, von den Eltern gegeben, täuscht eine Konstanz unserer Identität vor, die der genauen Untersuchung nicht standhält. Daher stellt sich die Frage: „Wer oder was bin ich wirklich?“ Besonders diese Frage scheint Jugendliche in der Phase des Jugendalters zu beschäftigen, wenn sie merken, wie sich ihre von außen vermittelten Identitäten ständig wandeln. 

Neugeborene befinden sich in vollkommener Abhängigkeit von den Eltern, besonders der Mutter. Die Fürsorge für das Neugeborene bedeutet, für das Kind da zu sein, also seine Bedürfnisse zu erfüllen und es vor Gefahren zu schützen. Beginnt das Kind zu sprechen, schreibt man ihm automatisch einen eigenen Willen zu. Dieser Wille existiert ohne Zweifel, aber der Wille geschieht dem Menschen, er ist nicht frei. Die Erleuchteten haben verkündet, dass der Mensch nicht der Handelnde ist. Also ist der Wille des Menschen auch nicht frei. Dennoch und gerade weil er dem Kind ohne dessen Kontrolle geschieht, gilt es für Erwachsene den Willen der Heranwachsenden zu respektieren, so illusionär er auch sein mag. Altersangemessene Freiheit und Autonomie, wenngleich illusionär, ermöglichen es Kindern sich und ihre Mitmenschen zu lieben und zu respektieren. Zwang und Manipulation führen meist zu Selbstablehnung, Rebellion und wiederum zu dem Drang, andere zu manipulieren, und zwar in jedem Lebensalter. 

Die Erwartungen der Eltern, wie das Kind sein sollte, und die falsche Vorstellung, dass der Wille des Kindes und der Eltern frei sei, führt zu Konflikten. „Ich hab dir doch dies und jenes gesagt, warum hast du es nicht so gemacht, wie ich es wollte?!“ Indem Belohnung und Strafe, manipulierendes Lob und Tadel zum Einsatz kommen, wird dem Kind nicht bedingungslose, sondern von Bedingungen abhängige Liebe vorgelebt und vermittelt. Es kommt allerdings nicht darauf an, wieviel Liebe die Kinder bekommen, entscheidend ist die Qualität der Liebe, ob sie bedingungslos ist oder nicht.

Besonders im Jugendalter kommt es in den Familien zu heftigen Auseinandersetzungen. Daher wird dieses Phänomen als „normal“ betrachtet und nicht weiter hinterfragt. Viele Jugendliche haben bis zum Jugendalter von den Eltern und anderen Erwachsenen durch Imitation genau gelernt, wie man andere manipuliert. Fühlen sie sich stark, schlagen sie mit denselben Waffen zurück und neigen zu Aggression. Fühlen sie sich schwach, richten sie die Waffen gegen sich selbst und neigen zu Depression. Lösungen für diese Situation werden an der Oberfläche gesucht, ohne die Problematik in der Tiefe zu verstehen. 

Dann greifen verzweifelte Eltern gerne zu einem Ratgeberbuch, fragen Freunde, Eltern und Schwiegerelten, Ärzte oder Psychologen um Rat. Oft kommen unerwünschte Ratschläge auch ungefragt. Jeder glaubt am besten zu wissen, was zu tun sei. Meist beziehen sich die Tipps darauf, wie man als Erwachsene die Oberhand behalten soll. Selten wird der Rat gegeben, in schwierigen Situationen noch geduldiger zuzuhören, gemeinsam nach Lösungen zu suchen und den Willen der Jugendlichen zu achten, wenn man ihm auch nicht immer nachgeben kann. Solche Einsichten, die in Richtung bedingungslose Liebe deuten, sind dem Menschen selten gegeben, weil Handlungen, Worte und Gedanken für den Menschen real erscheinen. Kein Mensch entkommt der Konditionierung, dass sich Worte auf das Leben beziehen, obwohl das nicht die Wahrheit ist. 

Für das Leben gibt es keine Anleitung. Das illusionäre Fließen des Lebens ist unberechenbar und in jedem Moment ist das Leben neu und frisch, wie es ist. Und da das Leben immer spontan, unvorhersehbar und unkontrollierbar geschieht, ist auch keine Anleitung nötig. Der Körper und der Geist eines jeden Erwachsenen und Kindes ist in jedem Moment genau, wie es sein soll. Allerdings nicht so, wie der konditionierte Verstand erwartet, dass man sein sollte. Der Mensch hat den Moment nicht gemacht, in dem alles im Leben manifestiert wird. Der Moment im Leben war schon lange vor dem Menschen da. Daher kann der Mensch auch nicht kontrollieren, was im Moment geschieht. 

Im Moment gibt es nur eine einzelne Bewegung aus Licht und Ton, die Individuen und Handlungen widerspiegeln, wenngleich illusionär. Der menschliche Verstand glaubt fälschlicherweise, dass die Worte, die Handlungen benennen, die Realität im Leben abbilden. Das Leben ist ohne Anfang und ohne Ende. Handlungen bräuchten einen Anfang und ein Ende, um real zu sein. Da die einzelne Bewegung des Lebens jedoch niemals anhält, ist jede scheinbare Handlung eines scheinbaren Individuums im einzelnen Fließen des Lebens enthalten. Ein Individuum besteht aus Atomen und Atome bestehen nicht aus Mensch oder einem bestimmten Individuum, sondern aus Licht. Da Licht alles ist, was es im Leben gibt, besteht auch keine reale Trennung zwischen dem Menschen und dem Leben. Das Leben spiegelt ein Individuum wider. Worte täuschen also eine Realität im Leben vor, obwohl sich alles nur im menschlichen Verstand abspielt. 

Das weise Verständnis von „Jugendalter“ ist: Die Bedeutung des Wortes „Jugendalter“ bezieht sich auf die Vorstellungen, Interpretationen und Befürchtungen des Verstandes, nicht jedoch auf das Leben, wie es ist. Es ist weise zu verstehen, wenn es geschieht, dass die Eltern ihre eigenen Gedanken und Vorstellungen, Forderungen und Erwartungen durch Worte auf ihre Kinder projizieren. Wer ins Buch des Lebens blickt, wie es ist, gewinnt Vertrauen ins Leben in jeder Lebenslage anstatt auf die illusionären Worte in seinem Verstand zu hören, so als wären sie die Realität. Liebe und Geduld sind der Schlüssel zum inneren und äußeren Frieden – für ein gelingendes Familienleben, das von bedingungsloser Liebe erfüllt ist.

Marcus Stegmaier, 2018

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